Atmen im Wangerland.
Er hasst mich, der Fasan. Es ist der dritte Tag in Folge, dass ich ihn aus seinem Versteck am Wegrand aufgescheucht habe, wo normalerweise wahrscheinlich nie ein Mensch entlangwandert. Laut protestierend flattert er davon und schlägt aufgebracht mit den Flügeln, jedoch nicht, ohne am Ende einen galanten Landeanflug hinzulegen. Auch drei Rehe hatte ich verschreckt, wenn ich sie auch recht lange beobachten konnte, bevor sie schließlich doch beschlossen hatten, dass ich ihnen nicht ganz geheuer war und sie mäßig hektisch davonsprangen.
Schon am ersten Tag habe ich ihn verschreckt, als wunderschönes Wetter im Wangerland ist und ich am Mittag bei „Mario's“ in der Sonne sitze. Die Enten watscheln zutraulich um meine Füße, quaken zufrieden und sonnen sich. Ein schlechtgelauntes Ehepaar streitet sich und ruft den Hund zurück: Nichts da, Chicko, heute gibt’s keine Ente frei Haus. Die Meditation, die sonst so schwer gelingt, fällt beim Warten auf das Essen ganz leicht bei der Beobachtung des jungen Polen, der hingebungsvoll den Sichtschutzzaun in frischem Dunkelgrün streicht. Von rechts nach links, von oben nach unten, erst die Innenfelder, dann die Zwischenstreben und dann mit der Rolle die breiten Bretter. Das „Baguette-Brot“ zum Gorgonzola-Spinat-Omelett entpuppt sich als krosse Toastbrotscheiben. Nachdem ich mein Essen und der Pole die letzte Strebe des Sichtschutzpanels beendet hat, mache ich mich auf Richtung Strand. Ich bin hier, am Meer, aber das Meer ist nicht da. Spielende Kinder, Drachen im Wind, kläffende Hunde, Wohnwagensiedlungen. Nach Ewigkeiten am Deich entlang endlich der Sandstrand, warmer, weicher Sand unter meinen nackten Füßen, die Schuhe in der Hand immer weiter am Watt entlang, irgendwann setze ich mich in die Dünen. Selbst hier, am menschenleeren Teil des Strands, mit der atemberaubenden Sicht auf das Wattenmeer verharre ich in meinen Gedanken. Wo, wenn nicht hier, sollte es gelingen, an nichts zu denken? Beim Rückweg zurück laufe ich an einer Schafherde vorbei. Ein Lamm wälzt sich sonnenbeschienen im Gras, es wirkt glücklich, das berührt mich.
Am nächsten Tag Wind, Wind, unendlich viel Wind. Ich kauere auf einer Bank an einem hübschen Kanal in der Sonne, aber der Wind bläst selbst durch die winddichte Jacke hindurch. Gerade hatte ich in einem kleinen Café gefrühstückt, im Wintergarten und damit wie das Tier im Zoo. Draußen leerte ein Stadtarbeiter die Mülleimer zur Musik von Tina Turner. Völlig ungehemmt sehen die vorbeischlendernden Menschen zum Fenster hinein und mir beim Essen zu, keine Scham überkommt sie beim Ertapptwerden des Hineinschauens, vielleicht auch, weil es hier sonst nichts gibt, außer zu gucken, besonders wenn Fremde hier sind. Fremde, oder wie der stämmige Mann im Bus sagt: Terroristen. Er, der bestimmt auch oft: zum Bleistift. sagt, wirkt abweisend. Der Busfahrer hingegen, der fröhlich Moin, Moin! ruft, preist mich schon als lokale Kuriosität, den einzigen Menschen hier, der öffentliche Verkehrsmittel nutzt. Als ich sage: Ganz schön windig hier., meint er: Das ist gut, der Wind, der pustet einem alles Negative aus dem Kopf!. Den gleichen Satz zitiert später auch die Wattführerin. Ich bin die Einzige, die bei der Wanderung alleine unterwegs ist. Mit dabei sind neben zwei Familien ein junges Pärchen mit Terrorkind, das nur brüllt, tritt, heult, mit Sand wirft oder einfach wegläuft; ein bayerisches Dreiergespann; zwei Zuspätkommer; ein Ehepaar mit einem Jungen. Der Mann dieses Paares ist eigenartig, großgewachsen, schmal, mit schlackernden Hosen, die Kapuze über die Mütze gezogen. Eine perfekte Figur für eine Judith-Hermann-Geschichte, darin würde er Hannes heißen und am Ende der Wattwanderung unbemerkt nach meiner Hand greifen. Aber Hannes, der gar nicht Hannes heißt, schiebt nur das Kinn tiefer hinter den Reißverschluss der Jacke und greift nach der Hand seiner Frau, die wie ich eine lilafarbene Windjacke trägt. Das bayerische Dreiergespann, das keine Gummistiefel mitgebracht hat, meckert vor sich hin, weil im kalten Wind die Füße schmerzen. Schließlich brechen sie ab und laufen vorzeitig zum Strand zurück, während das Zuspätkommerpärchen, das ebenfalls barfuß laufen muss, tapfer die Zähne zusammenbeißt. Die Kinder halten ehrfürchtig einen dicken Wattwurm in den Händen und setzen ihn ganz vorsichtig wieder in das aufgeworfene Loch.
Beim kurzen Gespräch mit der Wattführerin merke ich schnell den Unterschied zwischen dem nordischen „Snacken“ und dem kölschen „Klönen“. Ein kurzer, netter Wortwechsel, aber bei einer Nachfrage meinerseits spüre ich deutlich den strengen Blick, der mich auf Distanz hält. Umso überbordender freundlich sind hier die Servicekräfte, deren Nachfragen mich schon fast verschrecken. Kaum hebt man dem Blick vom Buch, ruft es schon von der Theke: Alles in Ordnung, schmeckt es Ihnen., Jaja., sage ich, und beobachte vom Fenster aus die Kaninchen, die sich bei den Außenbecken der Therme tummeln. Diese Therme gleicht im Innenbereich eher einer mittelmäßigen Wasserpfütze, in der sich einige Senioren mit bunten Badekappen tummeln. Ich schwimme einige unmotivierte Achten um die Senioren herum, und gehe dann wieder. Beim Föhnen blicke ich in den Spiegel und erschrecke, als ich mein Gesicht sehe, in dem ich das erste Mal eine Ähnlichkeit zu meiner Schwester erkenne.
Während meiner ganzen Zeit im Wangerland treibt mich die Frage um, wie sich hier eigentlich Paare kennenlernen. Findet man sich hier nur über Kontaktbörsen, Suchanzeigen, Zweckangebote? Einsamer Landwirt ohne Nachbarn sucht einsame Landwirtin auch ohne Nachbarn? Auf der Straße jedenfalls begegnen mir nur Kleinfamilien und alte Leute, einzig und allein der vorbeieilende Koch in der Teestube hält meinen Blick einen Moment lang fest und lächelt mir zu. Frauen wie Männer tragen ausschließlich Funktionskleidung, alles rein zweckmäßig, Windjacken, Jeans oder Trekkinghosen und Wanderschuhe oder Gummistiefel. Ein Frauentypus hier gleicht frappierend jungen, stämmigen Burschen, es passiert mir zweimal, dass ich einen Mann mit seinen zwei Söhnen an der Haltestelle stehen sehe, und dann feststelle, dass der ältere Sohn tatsächlich die Mutter und Frau der Kleinfamilie ist.
Mein letzter Tag, und im Ashram führt ein junger fränkischer Yogi mit deutlicher Selbstironie durch das Verehrungsritual, bei dem die hinduistischen Heiligenstatuen zuerst mit Reismilch übergossen und dann mit Reis, Blumen und Schmuck dekoriert werden. Ein hipsterbärtiger, mittelalter Neuzugang, der sich bei Ankunft im Ashram noch tränenreich von seiner Freundin verabschiedet hatte und sich bei Eintritt in den Raum minutenlang vor dem Verehrungsaltar verbeugte, sitzt mir bei der Zeremonie fast auf dem Schoß, sieht immer wieder zu mir hinüber und berührt beim Herumgeben der Kirtanbücher lange meine Hand. Beim Anreichen der Blumen führt er pathetisch mit geschlossenen Augen die Hand immer wieder zu seinem Herzen und dann symbolisch in die Weite, und innerlich warte ich noch auf die Tränen der Rührung, die aus seinen Augenwinkeln kullern. Natürlich empfängt er den roten Punkt auf der Stirn und verharrt danach wieder lange in der Verbeugung vor der Lichtflamme. Ich gehe lieber essen.
Vor dem Schlafengehen laufe ich noch ein paar Schritte den Feldweg entlang. Diesmal bleibe ich etwa zwanzig Meter vor dem Fasanenversteck stehen. Ich höre nichts außer dem Geräusch der wiegenden Bäume im Wind und meinem eigenen Atmen. Am Horizont drehen sich im Sonnenuntergang meditativ die Flügel der Windräder. Ruhe, Stille, sonst nichts, nur das merkwürdige Gefühl, mich selbst am Ende des Weges stehen zu sehen.

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