Frühstück in Marbach
Schon beim Aufwachen Fleischgeruch, Wurstgeruch, Metzgereigeruch, er dringt mir unangenehm in die Nase, wird stärker, bleibt stark, ebbt selten ab, und wenn, dann folgt die nächste Brise von noch größerer Intensität. Das ist das Los des Zimmers über der Metzgerei, das ich so günstig für eine Nacht anmieten konnte, klein ist es, klein und hübsch, aber voller Fleisch- und Wurstgeruch.
Ich gehe zum Frühstücken nach unten in den Speiseraum und wundere mich, als ein Mann mit asiatischem Einschlag mich so perplex mustert und auch mir kommt er merkwürdig bekannt vor, aber mein Gesichtergedächtnis, das ein außergewöhnlich gutes ist, kann ihn nicht einordnen.
Ich setze mich hin und die Besitzerin der Metzgereifremdenzimmervermietung steht sofort mit breitem Grinsen über beide Ohren parat: Und, was mögen Sie, Cappuchino, Latte Macchiato, Milchkaffee? Ich sage: Einen normalen Kaffee bitte, einfach, vielleicht eher ein bisschen stärker., Soll ich Ihnen einen Espresso machen, oder einen doppelten Espresso?, Mir ist das alles zu kompliziert am Morgen und ich sage: Nein, danke, dann einfach nur ein Kaffee.
Ich sitze auf dem mir zugewiesenen Platz und starre vor mich hin und der asiatisch aussehende Mann drei Tische weiter tut es mir gleich. Dann betritt ein Ehepaar den Speiseraum. In gewisser Hinsicht erinnern mich die beiden an meine Eltern, nur fehlt der Zynismus. Ich frage mich immer, wie Paare es schaffen, in einer klassischen Beziehung Jahrzehnte zusammenzusein, ohne zynisch zu werden, ohne sich zu fragen, was sie gerade ohne den Partner alles alleine erleben könnten. Stattdessen muss man mit dem altbekannten Stück Mensch an einem Tisch sitzen, jedes Utensil des Frühstücks kommentieren: Ja, die Eier sind aber gut., Ja, hast du den Schinken probiert – lecker. Magst du ein Stück von meinem Brötchen haben, das ist wirklich außergewöhnlich. Als auch das letzte Frühstücksteil einen eigenen Kommentar erfahren hat, machen sie es doch wie meine Eltern und sehen hektisch im Frühstücksraum hin und her: Ja, die Einrichtung, das ist ja wie in einer richtigen Stube hier. Und hier, die Gläser, richtige Kelche. Sieh mal, das Licht draußen, sieht das nicht schön aus. Mittendrin sehen mich beide wieder an, vermutlich, weil ich selbst auf doppelte Ansprache bei ihrer Hereinkunft nur genickt habe und mich weigerte zu grüßen, und dann nicht einmal mich beschäftige, sondern einfach nur esse. Manchmal vermute ich, man kann Menschen mehr damit irritieren, schweigend zu existieren, als mit Weihnachtsmannbademantel an Ostern durch die Fußgängerzone zu hüpfen. Auch gestern war mir das schon passiert, als ich in der Fußgängerzone unterwegs war, die völlig menschenleere dreihundert Meter umfasst, dass mich alle ansehen, sich teilweise umdrehen, als wäre ich ein Zootier oder hätte zumindest Punkte im Gesicht. Noch schlimmer war es in der Natur, als mich Pärchen schon von weitem anstarren, mir dann ins Gesicht stieren, und, als ich wegsehe, sich noch den Hals verdrehen. Was fehlt mir die Masse, der Samstagnachmittag in der Kölner Schildergasse, wo ich als Sardine nahezu alles machen könnte, ohne dass es überhaupt jemand bemerkte. Ich würde höchstens totgetrampelt.
Und der ganze Aufwand nur für vier läppische Briefe im Archiv. Dort lief mir schon unten an den Spindschränken ein junger, schick gemachter Wissenschaftler über den Weg, oben dann ein junger Historiker in Wanderschuhen. Beide saßen später auch im Lesesaal und wühlten sich fachmännisch durch Handschriften. Der junge Historiker in Wanderschuhen kaufte später noch bei Rewe ein, als ich dort auch war. Was für ein Kaff, wenn man innerhalb von 2 Stunden schon die halbe Stadt kennt!
Der asiatisch aussehende Mann hat inzwischen den Speisesaal verlassen, und das Ehepaar ist nun doch ein bisschen zynisch, wie es in geflüsterten Untertönen verrät. Laut schwärmen die beiden immer noch über die rustikale Stube, den leckeren Schinken, den exquisiten Landhonig, aber mittendrin stößt er ein paar Mal entnervt aus: Jetzt hör doch auf. oder Lass das jetzt doch mal, Schatz. Ihre fröhliche, überneugierige Art, die ihn vielleicht vor dreißig Jahren um den Verstand gebracht und sein Herz schneller schlagen hat lassen, scheint nun seine Nerven völlig zu überreizen. Mittendrin sieht er aus, als will er mir einen hilfesuchenden Blick zuwerfen, aber ich sehe weg. Ist es nicht immer so, dass sich Menschen genau in den anderen verlieben, weil er etwas hat, was ihnen fehlt, und dann regen sie sich den Rest des gemeinsamen Lebens darüber auf, dass er nicht ist wie sie selbst? Inzwischen will ich einfach nur fertig werden mit dem Essen, ich packe zusammen, nehme meinen Schlüssel und gehe ohne Gruß nach oben. Auf der knarzenden Treppe höre ich, wie mir jemand entgegenkommt, der, als er mich sieht, mir sofort galant Platz macht. Jetzt, mit Brille, schickem Anzug und Aktenkoffer, erkenne ich ihn. Der asiatisch aussehende Mann ist der Wissenschaftler aus dem Archiv und wohnte nicht nur im gleichen Gasthof, sondern sogar im Zimmer nebenan. Kleiner kann die Welt wohl nicht werden als in Marbach am Neckar?

Kommentieren