Der Mann aus Odessa.
Weinrot, das zum Kleidersaum hin in ein rostorange changiert, leicht fällt der Stoff in ihren Händen, als sie ihn über ihre Beine zieht. Sie blickt sich im Spiegel an, zupft hier und da und bemerkt irgendwann den Blick des Paranoiden, der hinter ihr steht und sie mürrisch ansieht. Bist du sicher, dass du nicht mitgehen willst., fragt sie ihn, aber sie kennt die Antwort, wenn er sagt: Was soll ich denn da, außerdem willst du doch gar nicht, dass ich mitgehe. Sie verdreht die Augen: Ach, hör auf., und sucht ihre Handtasche, und denkt dann doch: Zum Glück will er nicht mit.
Er ist ihr sowieso peinlich geworden mit der Zeit. Und mit der Zeit passierte es auch, dass er immer paranoider wurde. Vorhin noch hatte sie kurzzeitig türenknallend die Wohnung verlassen, als er wieder an ihrem Laptop fühlte, sie ansah und sagte: Er ist noch warm - mit wem hast du geschrieben!, und sie sagte: du bist paranoid., und der Paranoide sagte: Nein, aber ich merke, dass du mich betrügen wirst. Irgendwann werde ich das auch, denkt sie sich jetzt, zumindest wenn das so weitergeht, wenn der Paranoide immer paranoider und peinlicher wird und sie weder zuhause noch sonstwo Ruhe hat vor ihm. Trennung, Trennung ist ein großes Wort, viel größer als Beziehung, weil es mehr Mut erfordert und es das andere manchmal nur gibt, weil keiner sich trennt.
Inzwischen hat sie die Handtasche gefunden, wirft dem Paranoiden noch einen angestrengten Blick zu und verlässt mit einem kurzen Tschüss. die Wohnung. Er sagt nichts und starrt ihr mürrisch nach, aber an solche Abschiede hat sie sich mit der Zeit gewöhnt. Sie läuft durch die kühle Winterluft, bis zum Bahnhof, sitzt in der Bahn und sieht ratlos aus dem Fenster. Manchmal kann sie gar nicht fassen, wie alles so kommen konnte, wie ihr ganzes Leben immer und immer wieder zum stumpfsinnigen Hamsterrad wird, wie sie es immer und immer wieder schafft, diese Menschen um sich zu scharen, mit denen alles schwerer, aber einfach nichts leichter wird, und es alle paar Jahre zum Knall kommt, und sie umziehen will und sich von allem trennen will und letztendlich bleibt sie doch in der Wohnung mit dem Paranoiden, der dauernd hinter ihr steht und sie mürrisch anstarrt, und letztendlich bleibt auch ihr Leben ein einziges stumpfsinniges Gelatsche im Hamsterrad, ein unbegeistertes Absolvieren von Ungeliebtem, im Großen und Ganzen also ein einziger unnützer Unfug, der alles schwer und nichts leicht und schön macht.

Die Bahn hält, sie steigt aus und läuft, einen Fuß vor den anderen setzend, vorwärts, mit jedem Schritt scheint der Paranoide ein bisschen weiter weg zu sein, ein bisschen irrealer, ein bisschen weniger ihr Leben. Als sie an der Wohnung ihrer Freundin angekommen ist, scheint es ihr fast so, als gebe es den Paranoiden gar nicht, als sei er ein Phantasiegebilde, ein kleiner Albtraum im Wachzustand. Aber der Albtraum ist mein Leben, das ist die ganze Ironie., denkt sie noch, aber die Tür geht auf und sie lächelt und tritt ein. In der Wohnung kann sie kaum weiter als zwei Meter blicken, so ist alles voller Rauch, eng gedrängt sitzen laut durcheinander redende Leute im Wohnzimmer, jeder eine Flasche und eine Zigarette in der Hand, sie setzt sich dazu, zündet sich ihre Malboro an und nimmt einen Schluck aus der Flasche, die man ihr gereicht hat, Rosé, der billigste Fusel, gleich nach dem im Tetrapack. Sie trinkt mehr und mehr, aber es ist immer noch nicht genug, solange ihr der Paranoide und ihr Hamsterradleben einfällt, also trinkt sie noch welche von den Gläsern, die man ihr in die Hand drückt, und ist froh, als man beschließt, weiterzuziehen. Kühle Nachtluft empfängt sie, als sie aus der Tür tritt, kühl und klar umspült es ihren nebligen Kopf, ein Schritt vor den anderen, nicht schwanken, schön gerade aus, denkt sie und es klappt auch ganz gut.
Der Club ist nicht weit und sie drückt sich durch die Tür und in die Menschenmasse. Die Jacke hängt sie irgendwohin, sucht sich die engste Stelle auf der Tanzfläche und denkt nicht mehr nach. Immer wieder taucht eine Freundin auf und drückt ihr ein Glas in die Hand, sie lässt es geschehen, alles wie es soll. Was der Paranoide jetzt wohl macht, bestimmt vor sich hinstarren, aber das tut er ja auch, wenn sie da ist. Sie ist jetzt noch nicht lange auf der Tanzfläche, als sich ein Anzugträger von hinten an sie drückt. Sie ignoriert ihn, aber er sagt ihr andauernd irgendwas ins Ohr, er schreit ihr ins Ohr, aber sie versteht nichts, die Musik ist zu laut. Irgendwann versteht sie, ob sie mit nach draußen käme. Sie geht hinter ihm her, aber er gefällt ihr nicht, sie zündet sich eine Zigarette an, die letzte, die sie noch hat, und fragt ihn, was er denn so mache, doch schon nach ein paar Sekunden bereut sie diese Smalltalk-Frage, als der Anzugträger zu einem ausschweifenden Monolog über sein Unternehmen ansetzt. Eine Weile lässt sie das Schwafeln des Anzugträgers über Brutto und Netto und Gewinne und Fachwörter über sich ergehen, dann geht sie wortlos wieder nach drinnen. Er ruft hinterher, aber sie dreht sich nicht mehr um.

Eine Weile später steht sie wieder draußen und sieht in ihre leere Zigarettenschachtel. Vor dem Club haben sich einige Grüppchen gebildet, sie geht wahllos herum und fragt einen Alten und einen Studenten, ob sie denn eine Zigarette übrig hätten. Für eine schöne Frau immer., sagt der Alte und zieht aus der Schachtel eine Malboro. Sie steckt die Zigarette zwischen die Lippen, beugt sich nach vorne und der Alte lächelt, als er ihr Feuer gibt. Sie sieht die beiden ungleichen an, den Studenten mit Lockenkopf, der ein bisschen wie ein Lämmchen wirkt, und den Alten, der weder groß noch schlank ist, aber aussieht wie dieser Charakterschauspieler, dessen Namen ihr entfallen ist. Sie fragt den Alten, was er hier mache, und er sagt, er sei hier hängengeblieben, er wäre wegen einer Messe hier. Eigentlich wohne er in Odessa und habe dort ein Unternehmen. Und, wie ist es in Odessa?, fragt sie und er sagt: Warm und wunderschön.
In Odessa müsste man sein, sagt sie, und er sagt: Dann komm mit. und sie sagt: Na klar., sie lacht. Der Alte lacht nicht und sagt: Ich habe eine Villa, eine Yacht, du kannst an den Strand gehen, du kannst machen, was du willst, du darfst alles und musst nichts. Du kannst mir Gesellschaft leisten, du kannst auch ohne mich sein, mir reicht es schon, wenn ich nicht mehr ganz so viel alleine bin. Ihr ist ein bisschen schwindlig geworden, sie lacht immer noch und sagt: Was sagt denn deine Frau dazu, dass du solche Angebote machst. und er sagt: Meine Frau ist meine Ex-Frau und wohnt seit unserer Scheidung vor 15 Jahren mit meiner Tochter weiterhin in Deutschland. Die Tochter ist bestimmt so alt wie ich, schießt ihr durch den Kopf. Der Student mit dem Lockenkopf sieht ein bisschen ratlos zwischen beiden hin und her, die sich während des Gesprächs ohne zu blinzeln ansehen. Erst jetzt senkt sie den Kopf und sagt: Netter Gedanke, aber ich kann hier ja nicht weg. Job, Freund, Familie, sagt er, schon klar. Ja, schon klar., wiederholt sie, schon klar. Hamsterrad, der Paranoide, die Mischpoche. Oh nein, der Paranoide! Sie hatte gar nicht mehr aufs Handy gesehen, und tatsächlich, sie zieht es heraus, über zehn Anrufe, wütende Nachrichten, sie entschuldigt sich beim Alten und sagt, sie müsse kurz telefonieren, wählt schon die Nummer und hört im gleichen Moment die Stimme des Paranoiden. Wo bist du. sagt er. Noch unterwegs., aber er sagt: Was machst du da., sie verdreht die Augen und als er hinterherschiebt: Mit wem hast du gerade geredet., legt sie auf. Der Alte sieht sie lange an und sie sagt: ich muss jetzt nach Hause. Kommst du mit nach Odessa., sagt er, aber sie zuckt nur traurig die Schultern. Dann guten Heimweg., doch als sie gehen will, ruft er sie zurück: Meine Karte, falls du es dir anders überlegst. Sie steckt die Karte ein, aus Höflichkeit, hebt nochmal die Hand und geht in Richtung Bahnhof.
Zuhause öffnet sie die Türe so leise wie nur möglich, aber dem Paranoiden entgeht nichts. Warum hast du aufgelegt., mit diesen Worten steht er vor ihr und starrt sie an. Ach, lass mich., sagt sie, beginnt, sich umzuziehen und legt sich schlafen. Doch schlafen kann sie nicht, sie liegt mit offenen Augen da und denkt an den Alten, an die Villa, an die Yacht, den Strand, Odessa. Sie denkt an den Paranoiden, an die Wohnung, an das Hamsterrad, den Regen, ihr Leben. Nein, das ist doch zu verrückt., sagt sie laut und der Paranoide fragt: Was, was hast du gesagt?., Nichts., sagt sie.

Die Zeit vergeht, Wochen, Monate sind vorüber und immer noch denkt sie an den Alten, nicht andauernd, aber immer wieder, an Odessa, den Strand, die Yacht, die Villa. Der Paranoide ist jetzt in Therapie, er bessert sich. Er habe eingesehen, was er mit seiner Paranoia anrichte, meint er. Er will, dass jetzt alles besser wird. Vielleicht will er ein Haus suchen, für sie beide. Und der Winter ist vorbei, die Sonne scheint jetzt auch hier, es ist warm, aber irgendwie ist es nicht wunderschön, es ist lau, alles ist lau. An einem ganz normalen Morgen steht sie auf, sie hat nachts geträumt, wie sie und der Paranoide in zehn Jahren im Haus mit Garten leben, wie sie immer noch im Hamsterrad steckt und es Winter ist und regnet. Sie quält sich aus dem Bett, wie immer, macht ihr Frühstück, wie immer, und sitzt bei Kaffee und Zigarette am Balkon frierend vor ihrem Laptop.
Am Nachmittag steht sie mit ihrem Rollkoffer in der Halle des Flughafens. Nur das Nötigste hat sie eingepackt, das Handy hat sie liegenlassen. Keinen Zettel, keine Nachricht, das wird hart für den Paranoiden. Ein bisschen tut es ihr leid, jetzt, aber es ist zu spät und er wird es überleben. Sie sieht auf die Uhr und die Anzeigentafel, der Flug wird gleich starten, sie läuft los, Schritt für Schritt, näher, weiter, immer weiter, nach Odessa.

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