Mittwoch, 16. März 2016
Ankommen.
Und wenn man fragt, wohin du gehst, sag: nach Bologna!, singt es von Wanda in meinem Kopf, und tatsächlich schlendere ich in der museumsgleichen Stadt durch die Torbögen unter den alten Häusern, passiere mutig oder vielleicht auch ein bisschen lebensmüde die viel zu befahrenen Straßen, beobachte die Tauben, die die Reste der Pizzen oder der Eiswaffeln aufpicken und fühle mich eigentlich ganz wohl. Auch dort drüben in der Kapelle fühlte ich mich wohl, oder vielleicht sogar ein bisschen einsam mit mir selbst gelassen, dieser alte Raum mit dem einfachen Kreuz, der so dunkel und still ist, dass die übervollen Straßen umso lauter und greller wirken.

Bologna, Italien, das ist Espressotrinken rund um die Uhr, Pasta, die auf der Zunge zergeht, Weißwein zum Mittag, das sind Männer, die Türen aufhalten, Blumenverkäufer und Bettler, das sind denkmalartig bemalte und wunderschöne Häuser und Straßenzüge.
Bologna, meine Stadt?

Es wird dunkel, aber es bleibt laut, vor allem in dem Restaurant, in dem wir sitzen und trinken, diese große Gruppe von Leuten, alle nett, alle intelligent, alle betrunken. Ein Wein, ein Limoncello, noch mehr Wein, noch mehr..., es nimmt kein Ende und der Professor trinkt immer mehr und immer mehr. Die Kahlrasierte neben ihm fasst andauernd seinen Arm, erzählt von der Stadt, in die am nächsten Tag ein Ausflug stattfinden soll, von der Meerlage, vom Strand: Lass uns schwimmen gehen. - Na dann viel Spaß bei den Temperaturen, sage ich vor mich hin, aber sie erzählt dem Professor lieber von ihrem neuen Bikini, den sie dann tragen wird. Auf der anderen Seite zerrt die Blonde am Arm des Professors, sie erzählt ihm die Geschichte von Susanna und dem Grafen aus Figaros Hochzeit in einer ganz eigenen Variante. Susanna, sagt sie, Susanne ist so lange schon in einer Beziehung, und sie hat sich in den Grafen verliebt, obwohl der doch viel älter und reicher als sie ist. Eigentlich, sage ich, eigentlich will der Graf Susanna vergewaltigen und sie will sich vor ihm schützen., aber ich erzähle das nur leise mir selbst, denn ich glaube kaum, dass die Blonde das hören möchte. Susanna will den Grafen haben., wiederholt die Blonde, inzwischen ordentlich angeheitert und der Professor beugt sich zu ihr und sagt: Ich bin aber nicht dein Graf.
Ich fliehe vor der Diskussion vor die Tür und sehe einen angetrunkenen Italiener mit einem riesigen Küchenmesser eine Spumante-Flasche öffnen. Das abgeschnittene Korken-Glas-Stück fliegt über die halbe Straße, er rennt hinterher und taucht freudestrahlend mit dem Teil auf, drückt es mir in die Hand und sagt: felicità, felicità.
Bologna, meine Stadt?

Als der ganze Wein und der Limoncello ausgetrunken ist, ziehen wir weiter in die nächste Bar. Ich wusste gar nicht, dass du rauchst, sagt der Professor zu mir, und lässt sich von der Blonden dann auch eine Zigarette drehen. Die Kahlköpfige zwitschert seinen Namen und hängt sich bei ihm ein. Mir ist schlecht, sagt die Blonde.
Die nächste Bar ist noch voller als das Restaurant, und als sich die Tür der Damentoilette öffnet, verlassen zwei junge Italiener den Raum, in dem die Spuren ihres Aufeinandertreffens unübersehbar sind. Als ich wieder am Tisch sitze, und erstmal meine Unklarheit mit einem Glas Spumante hinunterspüle, erzählt die Blonde dem Professor von ihrer Vorliebe bei Unterwäsche. Kann ich den Rest haben, frage ich die Kurzhaarige neben mir und trinke den restlichen Spumante auf. Mit Konzentration funktioniert jeder Weg und so finde ich auch den meinigen durch Bologna, ein Fuß nach dem anderen, genügende Alkoholleichen zieren die Straßen ja eh schon, außerdem die Obdachlosen, um die sich hier niemand kümmert, die zwischen ihren Hunden auf den kalten Steinen schlafen und nicht das Geld haben, um sich zumindest innerlich mit Alkohol zu wärmen.
Bologna, meine Stadt?

Am nächsten Morgen schlendere ich wieder durch die Straßen, aber langsam habe ich mich sattgesehen an den Häusern, die alle schön, aber auch alle gleich aussehen. Ich habe mich auch sattgesehen an den kleinen Gassen und Sträßchen, die alle süß, aber auch so eng sind. Ich sehe mich auch satt an den immergleichen Leuten, an den Cafés, ich schmecke mich satt an der Pizza und an dem Espresso, den ich auch nicht mehr schmecken mag, mir ist es zu eng hier, es ist alles so eng, es gibt keine breite Straße, keinen großen Platz, keine hässlichen Häuser, nichtmal richtig hässliche Italiener gibt es, was ist das nur für eine Welt.
Ich bekomme keine Luft hier in einer Stadt wie dieser mit den gleichen Straßen überall, mit der gleichen Enge überall, den gleichen Leuten, ich glaube, ich muss ersticken, wenn ich noch ein solches schönes Haus sehe, ich vermisse die abgeranzten kaputten hässlichen Bauten aus meiner Rheinstadt, die durchgemischten Menschen, den schlechten Kaffee, die matschige Pasta, ich vermisse Bäume, Parks, Natur, Vögel, denn bis auf drei Kirschbäume gibt es nicht einen verdammten Zweig in dieser Stadt. Die Hunde pinkeln an die Gehwegkante, weil es keine Bäume gibt, Katzen sehe ich überhaupt nicht, Vögel höre ich nicht, nichts, rein gar nichts gibt es bis auf dieses Fenster in einer Straße, von dem aus man auf ein winziges Bächlein guckt, das unter Wäscheleinen vor sich hinsickert.

Wie froh bin ich, als das Flugzeug startet und unter mir die schachbrettartige braun-matschige Landschaft immer immer kleiner wird, bis irgendwann nur noch Licht und diese dicke Wolkendecke zu sehen ist, die so plüschig und kuschlig wirkt, dass man aus dem Fenster direkt hineinspringen mag. Und nur wenige Zeit später, als sich die Maschine ihren Weg erneut durch diese weiße Masse bahnt, schlängelt sich unter uns der Rhein durch grüne Wiesen und Felder, durch schöne Natur, durch... Der Dom, der Dom, oh mein Gott, man sieht den Dom!!, schreit die Passagierin neben mir, und ja, der Dom. Meine Stadt.

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Donnerstag, 10. September 2015
Prolog.
Da ist dieses Haus. Mit den hundertsechzig Fenstern und hundertsechzig Türen. Hinter jedem Fenster ist ein Raum, hundertsechzig Wohnungen mit hundertsechzig Leben darin.
Jeder Raum ist klein; so klein, dass man beim Husten direkt in Nachbars Bett sitzt und dessen Fernsehsender in der eigenen Küche spült.
Ich bin eines der hundertsechzig Leben und, wenn ich vorbeilaufe vor dem Haus mit den vielen Leben, und hineinsehe in die Fenster und Türen, dann weiß ich, dass ich nicht einmal fünf von ihnen vom Sehen und keinen von ihnen mit Namen kenne. Ich kenne nur die Schilder an Klingelbrett und Briefkästen.
Es ist ein trauriges Leben, nicht zu wissen, ob und wer drei Zentimeter neben dir ist. Und doch ist alles so nah. Eines Nachts komme ich heim, und ich höre aus dem Nebenzimmer das Lied, das ich seit Tagen hörte. Ich lege mein Ohr an die Zwischenwand, zwischen meinem und seinem Raum, höre die Musik, höre ihn atmen. Ich schließe die Augen und fühle mich nah, ihm nah, nah zu einem „daheim“. Wo auch immer es sein mag.

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Epilog.
Die Frau, die dort im Bus sitzt, atmet schwer. Sie ist dick, ihre Haare stehen ab, sie trägt eine Plastiktüte mit Fertiggerichten. Ich setze mich neben sie.
Wenn man so aus dem Fenster sieht, auf den weißen unberührten Schnee, und die Sonne scheint, dann glaubt man fast, sie würde wärmen bei dieser Eiseskälte. Es kommt mir gar nicht so kalt vor, bei den Sonnenstrahlen, und dem strahlend blauen Himmel. Irgendjemand hatte doch so strahlend blaue Augen, in denen man sich so leicht verlieren konnte, aber mir fällt nicht mehr ein, wer es war.
Eigentlich ist der Schnee doch schön, zumindest wenn man im Bus sitzt und nach draußen sieht, und jetzt ist auch Weihnachten vorbei mit all der Unbesinnlichkeit und dem Lärm. Jetzt ist es zu kalt, um viel zu machen, kaum jemand ist unterwegs, nur der Schnee, der Schnee liegt da und strahlt zur Sonne zurück. Es ist kalt und ein paar Schlittenspuren zerschneiden die große glitzernde Fläche, die sich bis zur Sonne und dem Wald, der auch weiß und kalt ist, zieht. Man hört Lachen.
Ich muss aussteigen und nicke der Frau noch einmal zu. Sie lächelt. Sie ist schön, wenn sie lächelt, wie könnte man sie nicht schön finden, sie strahlt wie die Sonne.

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Akten und Zeichen.
Die Uhr macht tick, tack, tick, tack, während sie im Wartezimmer sitzt und den Zeiger beobachtet. Der Sekundenzeiger dreht hektisch Runde um Runde, aber inzwischen hat auch der Minutenzeiger schon zwei Runden gedreht. Sie atmet tief durch und denkt, die Zeit kann sie sowieso nicht ändern, da hilft das ganze auf-die-Uhr-starren und aufstöhnen und sowieso alles nichts. Trotz allem schleichen um sie herum einige der Menschen, die ebenfalls seit Stunden warten, und heben alle paar Augenblicke den linken Arm mit einer Bewegung, die zugleich den linken Ärmel zurückschiebt, um auf ihre Armbanduhr zu lugen, aufzustöhnen und den Kopf zu schütteln, nur um denselben Vorgang alle paar Minuten zu wiederholen.
Ein anderer Patient setzt sich auf den Platz neben ihr. Unruhig atmet er, und als er sich eine Zeitung vom Tisch nehmen will, stößt er ihr Glas um: Oh, Entschuldigung., er will das Glas wieder aufrichten und macht damit alles nur schlimmer: Lassen Sie's gut sein., sagt sie und berührt ihn beruhigend am Arm. Sie merkt, dass er versucht, ruhiger zu atmen, aber es gelingt ihm nicht, und kurzerhand nimmt sie seine Hand und drückt sie. Er sieht sie verdutzt an, aber sie starrt einfach weg und hält seine Hand ganz fest, solange, bis er sich entspannt und sich sein Atem beruhigt. Gerade ist auch sie ganz entspannt mit der fremden Hand in ihrer Hand, als sie aufgerufen wird, die Hand des anderen loslässt und in den Aufnahmeraum geht.

Sie tritt ein und der Arzt, der dort sitzt, hebt die Augen über den Rand seiner Brille und signalisiert ihr damit, ohne sie anzublicken, Platz zu nehmen. Er stellt ihr Frage um Frage, sie beantwortet eine um die andere möglichst ohne Umwege, bis er zufrieden scheint und den Wagen mit den Untersuchungsinstrumenten heranzieht. Als er in ihrer Nase und ihrem Mund herumstochern will, schiebt er, um möglichst nahe ranzukommen, seinen Oberschenkel zwischen ihre Beine, sie denkt, er muss Fußballer sein, so muskulös wie sein Oberschenkel ist, und sie sieht weg, während er mit dem Stochern beginnt, sie sieht weg und sieht auf seine rotblonden Haare im Nacken. Mittendrin sieht sie doch in sein Gesicht, aber dann wirft er ihr einen stechenden Blick mit seinen braunen Augen durch das schwarze Gestell der Brille zu und sie konzentriert sich lieber auf die Nackenhaare, die in der Sonne hell schimmern. Plötzlich geht es ganz schnell, der Arzt zieht seinen Oberschenkel zwischen ihren Beinen hervor, packt eine schwarze Akte auf den Tisch und sagt: Die wird jetzt ihr wichtigster Begleiter. Sie packt die schwarze Akte unter den Arm und tritt spätestens mit dem Schritt in Patientenzimmer für die nächsten Tage ein in ein ganz seltsames ruhiges und fremdbestimmtes Leben. Morgens aufstehen, Frühstück, Anstehen vorm Behandlungszimmer, Mittagessen, Pflegervisite, Kaffeetrinken, Abendessen, Abendvisite, Licht aus, Nachtruhe, Schluss. So ähnlich zählt ihr später der Arzt die Risiken auf: Durchtrennung der Hirnschlagader, Blutungen, Schlaganfall, Herzstillstand, Tod. Da müssen Sie dann unterschreiben., sagt er, und sie führt die Hand über das Unterschriftsfeld.
Sie fragt sich, was eigentlich passieren müsste, dass der Arzt sie bemerken würde und nicht nur die Augen über die Brille ins Nichts heben würde, aber ihr fällt nicht viel ein. Vielleicht müsste sie ein besonders schwieriger Fall sein, besonders krank, besonders hoffnungslos, vielleicht hätte er dann Mitleid oder würde sie zumindest als Kuriosität erinnern. Aber während sie das denkt, sagt er schon: Haben Sie noch Fragen, nein, gut, dann gehen sie jetzt zum Anästhesiegespräch. Sie steht auf und er mahnt: Vergessen Sie ihre Akte nicht., sie klemmt also die schwarze Akte wieder unter den Arm und läuft Stufe um Stufe zur Anästhesie. Die Tür steht offen, sie schielt vorsichtig hinein und blickt direkt in ein Paar dunkle Augen. Der Anästhesist lächelt: Kommen Sie ruhig rein., sie setzt sich, lächelt auch und beantwortet auch dem Anästhesisten Frage um Frage. Als auch er am Ende zufrieden die Dokumente in die Aktenmappe steckt, zögert sie einen Moment und fragt: Können Sie bei mir dabeisein?, sie fragt ganz schüchtern, und er sieht sie an und sagt: Tut mir leid, dafür ist mein Kollege schon eingeteilt. Sie verzieht die Mundwinkel zum Lächeln und geht mit ihrer Akte zurück auf ihr Zimmer.
Sie denkt an die Operation am nächsten Tag, man hat ihr ein Schlafmittel gegeben, aber sie kann nicht schlafen, sie denkt, es muss etwas passieren, Komplikationen gibt es doch immer, sie denkt daran, wie der Arzt und der Anästhesist ganz besorgt wären, wie sie statt der Akte sie selbst ansehen würden, alles versuchen würden, dass es ihr besser ginge, aber dann denkt sie sich, wie albern dieser Gedanke doch ist, und schläft dann doch ein.

Am nächsten Tag muss sie sich ausziehen, sie liegt nackt in diesem weißen Bett in ihrem weißen Hemdchen und wird durch diese weißen Gänge geschoben. Man hat ihr wieder Tabletten gegeben, zum Beruhigen, aber sie will sich nicht beruhigen, sie wehrt sich gegen die Tabletten, mit aller Kraft, sie beginnt, während das Bett nach unten geschoben ist, zu rechnen, die Deckenfliesen zusammenzuzählen, wach bleiben, wach bleiben, sagt sie sich und ist dann doch etwas benommen, als sie auf eine andere Liege klettern soll. Ein älterer Mann beginnt, sie zu verkabeln und sie denkt, vielleicht ist das der Kollege des Anästhesisten, schade, dass er nicht dabei ist, sie sieht an die Decke und zählt wieder die Fliesen, wach bleiben, wach, und dann sieht sie wieder an die Decke und plötzlich in die dunklen Augen des Anästhesisten.
Sie sind ja doch da., entfährt es ihr und er lächelt, er habe den Dienst getauscht, fühlt ihren Puls und sagt: Ist denn alles okay, sind Sie aufgeregt?, sie sagt: nein, nein., und er sagt: Ihr Puls sagt aber etwas anderes., sie denkt, der Puls ist nur so hoch vom Deckenfliesenzusammenzählen und vom In-die-dunklen-Augen-des-Anästhesisten-schauen, nicht vom Aufgeregtsein, aber das sagt sie nicht. Er schiebt die Armschiene hin und her, legt die Plastikmaske auf ihr Gesicht und sagt: Wir sehen uns beim Aufwachen, träumen Sie was Schönes., sie will noch sagen: Ich weiß auch schon was., aber spürt nur noch, wie der Anästhesist ihr Bein berührt und ist weg.

Sie ist weg, sie ist wirklich weg, in einem Zwischenraum, da ist nur eine Bank, eine Bank im Park, überall liegt Herbstlaub am Boden und irgendwo steht eine Engelsstatue aus Stein, sie sitzt auf der Bank, plötzlich liegt sie wieder auf dem Parkboden und sitzt dann wieder auf der Bank, überall hat sie Herbstlaub, wenn sie die Hände öffnet, ist alles ganz staubig vom zerbröckelten Laub, sie sieht den Engel aus Stein an und er sieht mit den dunklen Augen des Anästhesisten zurück, ihr ist schlecht dort auf der Bank, ganz kurz ist sie wieder im weißen Zimmer, der Anästhesist und eine Schwester beugen sich besorgt über sie, die überall blutet und sie hört ihn sagen, man solle noch ein paar Kühlakkus bringen, dann sieht sie wieder seine Augen nur im Steinengel, sitzt wieder auf der Bank in einem riesigen Haufen Laub und starrt vor sich hin.

Plötzlich wacht sie auf, sie fühlt sich, wie als hätte man ihr den Steinengel auf den Kopf gedonnert, alles schwirrt, eine Schwester kommt und blafft: Ach, sind Sie wach., sie sagt: Mir ist kalt., und die Schwester spritzt ihr Schmerzmittel, dabei ist ihr doch nur kalt von den ganzen Kühlakkus im Nacken. Wenig später darf sie schon auf ihr Zimmer geschoben werden, eine nette Schwester hilft ihr in die Kleidung, dass sie ihr Hemd und die Nacktheit loswird, aber als sie in den Spiegel schaut, kommt sie sich doch wie geschlagen vor, alles ist blutig und blau. Aber keine Komplikation, es gab keine Komplikation, dabei gibt es doch immer Komplikationen, immer bei den falschen Menschen gibt es die, und deswegen sehen der Arzt und der Anästhesist auch nur die Akte, die schwarze Mappe mit den ganzen Dokumenten drin, und nicht sie.
Sie taucht ein in den Alltag von schlafen, Untersuchungen, essen, noch mehr essen, noch mehr Untersuchungen und noch mehr schlafen. Sie lässt sich treiben durch den Tag ohne Inhalt, ohne Ziel, ohne irgendwas. Einmal sieht sie den Anästhesisten durch ein Fenster, er telefoniert und bemerkt sie nicht. Doch dann kommt eines Morgens der Arzt wieder in ihr Zimmer. Er hebt wie immer seinen Blick über die Ränder der schwarzen Brille und sagt, ohne sie anzusehen: Wie geht es Ihnen., sie sagt: gut., und er: Wunderbar, dann können Sie gehen., sie sagt: Jetzt schon., und er sagt: Wir brauchen das Bett., ganz schlicht und kurz: Hier sind die Entlassungspapiere, da unterschreiben, dann können Sie gehen., sie unterschreibt geistesabwesend, sie sieht ihn an und wartet, ob noch etwas kommt, sie denkt, das kann doch nicht sein, erst keine Komplikation und jetzt auch noch früher entlassen, exzellente Wundheilung, alles außergewöhnlich gut, warum ich, warum ich, warum ausgerechnet ich, aber dann hört sie den Arzt sagen: Wir müssen natürlich noch die Biopsie abwarten, ob auch alles gutartig ist., und sie sagt: Ach so. und horcht auf.
Während sie ihren Koffer packt und bemerkt, wie der Arzt unruhig mit dem Fuß wippt, weil sie ihm nicht schnell genug weg ist, denkt sie, vielleicht ist die Biopsie meine Rettung, vielleicht ist etwas bösartig, vielleicht bemerkt sie der Arzt dann, oder der Anästhesist sieht ihr wieder in die Augen, sie sieht seine dunklen Augen vor sich und muss plötzlich an einen Steinengel denken, sie versteht nicht warum, aber dann hört sie das ungehaltene Räuspern des Arztes, wirft sich ihre Tasche über und verlässt das Krankenhaus.

Vierzehn Tage später sitzt sie wieder im Wartesaal. Vierzehn Tage hat sie darüber nachgedacht, was sie ändert, wenn etwas bösartig ist, sie denkt daran, wegzufahren, endlich ihren Job zu kündigen, endlich alles neu zu machen, sie denkt an den Anästhesisten mit seinen dunklen Augen, vielleicht hat er ja Mitleid, oder der Arzt mit seinen rotblonden Haaren, wie schön es wäre, mit ihm im Abendlicht zu sitzen, Essen zu gehen, aufs Land oder in die Stadt zu fahren, überallhin, Hauptsache ein neues Leben, ein anderes, nicht mehr das ihre. Sie wird ganz euphorisch bei diesen Gedanken, und als ihr Name aufgerufen wird, springt sie förmlich von ihrem Stuhl, läuft federnd in das Besprechungszimmer und setzt sich gutgelaunt hin. Guten Tag, Frau...wie war nochmal Ihr Name., sagt der Aktenmann und macht sich dann doch nicht die Mühe, nachzusehen. Er zieht aus der schwarzen Akte ein Blatt, das entscheidende Blatt, denkt sie, das Blatt zu einem neuen Leben, er nimmt es in die Hände, und sagt: Alles gutartig, alles super. Herzlichen Glückwunsch.

Es ist ihr, als hätte er sie geohrfeigt. Gutartig, warum gutartig, warum super, was ist daran Glückwunsch, sie schnaubt auf, wirft dem Aktenmann das Blatt ins Gesicht und rennt türenknallend aus dem Besprechungszimmer. Sie kann es nicht fassen, kann nicht glauben, dass sie in ihr Leben, so wie es ist, zurückkehren muss, dass das alles nichts verändert hat, dass sie keine Chance bekommt, dass einfach alles - sie stockt in den Gedanken, als der Arzt ihr entgegenkommt. Er wirft ihr einen Nicht-Blick durch die Brille zu und nickt, als er an ihr vorbeigeht. Er hat sie nicht einmal erkannt.

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Mittwoch, 9. September 2015
Der Mann aus Odessa.
Weinrot, das zum Kleidersaum hin in ein rostorange changiert, leicht fällt der Stoff in ihren Händen, als sie ihn über ihre Beine zieht. Sie blickt sich im Spiegel an, zupft hier und da und bemerkt irgendwann den Blick des Paranoiden, der hinter ihr steht und sie mürrisch ansieht. Bist du sicher, dass du nicht mitgehen willst., fragt sie ihn, aber sie kennt die Antwort, wenn er sagt: Was soll ich denn da, außerdem willst du doch gar nicht, dass ich mitgehe. Sie verdreht die Augen: Ach, hör auf., und sucht ihre Handtasche, und denkt dann doch: Zum Glück will er nicht mit.
Er ist ihr sowieso peinlich geworden mit der Zeit. Und mit der Zeit passierte es auch, dass er immer paranoider wurde. Vorhin noch hatte sie kurzzeitig türenknallend die Wohnung verlassen, als er wieder an ihrem Laptop fühlte, sie ansah und sagte: Er ist noch warm - mit wem hast du geschrieben!, und sie sagte: du bist paranoid., und der Paranoide sagte: Nein, aber ich merke, dass du mich betrügen wirst. Irgendwann werde ich das auch, denkt sie sich jetzt, zumindest wenn das so weitergeht, wenn der Paranoide immer paranoider und peinlicher wird und sie weder zuhause noch sonstwo Ruhe hat vor ihm. Trennung, Trennung ist ein großes Wort, viel größer als Beziehung, weil es mehr Mut erfordert und es das andere manchmal nur gibt, weil keiner sich trennt.
Inzwischen hat sie die Handtasche gefunden, wirft dem Paranoiden noch einen angestrengten Blick zu und verlässt mit einem kurzen Tschüss. die Wohnung. Er sagt nichts und starrt ihr mürrisch nach, aber an solche Abschiede hat sie sich mit der Zeit gewöhnt. Sie läuft durch die kühle Winterluft, bis zum Bahnhof, sitzt in der Bahn und sieht ratlos aus dem Fenster. Manchmal kann sie gar nicht fassen, wie alles so kommen konnte, wie ihr ganzes Leben immer und immer wieder zum stumpfsinnigen Hamsterrad wird, wie sie es immer und immer wieder schafft, diese Menschen um sich zu scharen, mit denen alles schwerer, aber einfach nichts leichter wird, und es alle paar Jahre zum Knall kommt, und sie umziehen will und sich von allem trennen will und letztendlich bleibt sie doch in der Wohnung mit dem Paranoiden, der dauernd hinter ihr steht und sie mürrisch anstarrt, und letztendlich bleibt auch ihr Leben ein einziges stumpfsinniges Gelatsche im Hamsterrad, ein unbegeistertes Absolvieren von Ungeliebtem, im Großen und Ganzen also ein einziger unnützer Unfug, der alles schwer und nichts leicht und schön macht.

Die Bahn hält, sie steigt aus und läuft, einen Fuß vor den anderen setzend, vorwärts, mit jedem Schritt scheint der Paranoide ein bisschen weiter weg zu sein, ein bisschen irrealer, ein bisschen weniger ihr Leben. Als sie an der Wohnung ihrer Freundin angekommen ist, scheint es ihr fast so, als gebe es den Paranoiden gar nicht, als sei er ein Phantasiegebilde, ein kleiner Albtraum im Wachzustand. Aber der Albtraum ist mein Leben, das ist die ganze Ironie., denkt sie noch, aber die Tür geht auf und sie lächelt und tritt ein. In der Wohnung kann sie kaum weiter als zwei Meter blicken, so ist alles voller Rauch, eng gedrängt sitzen laut durcheinander redende Leute im Wohnzimmer, jeder eine Flasche und eine Zigarette in der Hand, sie setzt sich dazu, zündet sich ihre Malboro an und nimmt einen Schluck aus der Flasche, die man ihr gereicht hat, Rosé, der billigste Fusel, gleich nach dem im Tetrapack. Sie trinkt mehr und mehr, aber es ist immer noch nicht genug, solange ihr der Paranoide und ihr Hamsterradleben einfällt, also trinkt sie noch welche von den Gläsern, die man ihr in die Hand drückt, und ist froh, als man beschließt, weiterzuziehen. Kühle Nachtluft empfängt sie, als sie aus der Tür tritt, kühl und klar umspült es ihren nebligen Kopf, ein Schritt vor den anderen, nicht schwanken, schön gerade aus, denkt sie und es klappt auch ganz gut.
Der Club ist nicht weit und sie drückt sich durch die Tür und in die Menschenmasse. Die Jacke hängt sie irgendwohin, sucht sich die engste Stelle auf der Tanzfläche und denkt nicht mehr nach. Immer wieder taucht eine Freundin auf und drückt ihr ein Glas in die Hand, sie lässt es geschehen, alles wie es soll. Was der Paranoide jetzt wohl macht, bestimmt vor sich hinstarren, aber das tut er ja auch, wenn sie da ist. Sie ist jetzt noch nicht lange auf der Tanzfläche, als sich ein Anzugträger von hinten an sie drückt. Sie ignoriert ihn, aber er sagt ihr andauernd irgendwas ins Ohr, er schreit ihr ins Ohr, aber sie versteht nichts, die Musik ist zu laut. Irgendwann versteht sie, ob sie mit nach draußen käme. Sie geht hinter ihm her, aber er gefällt ihr nicht, sie zündet sich eine Zigarette an, die letzte, die sie noch hat, und fragt ihn, was er denn so mache, doch schon nach ein paar Sekunden bereut sie diese Smalltalk-Frage, als der Anzugträger zu einem ausschweifenden Monolog über sein Unternehmen ansetzt. Eine Weile lässt sie das Schwafeln des Anzugträgers über Brutto und Netto und Gewinne und Fachwörter über sich ergehen, dann geht sie wortlos wieder nach drinnen. Er ruft hinterher, aber sie dreht sich nicht mehr um.

Eine Weile später steht sie wieder draußen und sieht in ihre leere Zigarettenschachtel. Vor dem Club haben sich einige Grüppchen gebildet, sie geht wahllos herum und fragt einen Alten und einen Studenten, ob sie denn eine Zigarette übrig hätten. Für eine schöne Frau immer., sagt der Alte und zieht aus der Schachtel eine Malboro. Sie steckt die Zigarette zwischen die Lippen, beugt sich nach vorne und der Alte lächelt, als er ihr Feuer gibt. Sie sieht die beiden ungleichen an, den Studenten mit Lockenkopf, der ein bisschen wie ein Lämmchen wirkt, und den Alten, der weder groß noch schlank ist, aber aussieht wie dieser Charakterschauspieler, dessen Namen ihr entfallen ist. Sie fragt den Alten, was er hier mache, und er sagt, er sei hier hängengeblieben, er wäre wegen einer Messe hier. Eigentlich wohne er in Odessa und habe dort ein Unternehmen. Und, wie ist es in Odessa?, fragt sie und er sagt: Warm und wunderschön.
In Odessa müsste man sein, sagt sie, und er sagt: Dann komm mit. und sie sagt: Na klar., sie lacht. Der Alte lacht nicht und sagt: Ich habe eine Villa, eine Yacht, du kannst an den Strand gehen, du kannst machen, was du willst, du darfst alles und musst nichts. Du kannst mir Gesellschaft leisten, du kannst auch ohne mich sein, mir reicht es schon, wenn ich nicht mehr ganz so viel alleine bin. Ihr ist ein bisschen schwindlig geworden, sie lacht immer noch und sagt: Was sagt denn deine Frau dazu, dass du solche Angebote machst. und er sagt: Meine Frau ist meine Ex-Frau und wohnt seit unserer Scheidung vor 15 Jahren mit meiner Tochter weiterhin in Deutschland. Die Tochter ist bestimmt so alt wie ich, schießt ihr durch den Kopf. Der Student mit dem Lockenkopf sieht ein bisschen ratlos zwischen beiden hin und her, die sich während des Gesprächs ohne zu blinzeln ansehen. Erst jetzt senkt sie den Kopf und sagt: Netter Gedanke, aber ich kann hier ja nicht weg. Job, Freund, Familie, sagt er, schon klar. Ja, schon klar., wiederholt sie, schon klar. Hamsterrad, der Paranoide, die Mischpoche. Oh nein, der Paranoide! Sie hatte gar nicht mehr aufs Handy gesehen, und tatsächlich, sie zieht es heraus, über zehn Anrufe, wütende Nachrichten, sie entschuldigt sich beim Alten und sagt, sie müsse kurz telefonieren, wählt schon die Nummer und hört im gleichen Moment die Stimme des Paranoiden. Wo bist du. sagt er. Noch unterwegs., aber er sagt: Was machst du da., sie verdreht die Augen und als er hinterherschiebt: Mit wem hast du gerade geredet., legt sie auf. Der Alte sieht sie lange an und sie sagt: ich muss jetzt nach Hause. Kommst du mit nach Odessa., sagt er, aber sie zuckt nur traurig die Schultern. Dann guten Heimweg., doch als sie gehen will, ruft er sie zurück: Meine Karte, falls du es dir anders überlegst. Sie steckt die Karte ein, aus Höflichkeit, hebt nochmal die Hand und geht in Richtung Bahnhof.
Zuhause öffnet sie die Türe so leise wie nur möglich, aber dem Paranoiden entgeht nichts. Warum hast du aufgelegt., mit diesen Worten steht er vor ihr und starrt sie an. Ach, lass mich., sagt sie, beginnt, sich umzuziehen und legt sich schlafen. Doch schlafen kann sie nicht, sie liegt mit offenen Augen da und denkt an den Alten, an die Villa, an die Yacht, den Strand, Odessa. Sie denkt an den Paranoiden, an die Wohnung, an das Hamsterrad, den Regen, ihr Leben. Nein, das ist doch zu verrückt., sagt sie laut und der Paranoide fragt: Was, was hast du gesagt?., Nichts., sagt sie.

Die Zeit vergeht, Wochen, Monate sind vorüber und immer noch denkt sie an den Alten, nicht andauernd, aber immer wieder, an Odessa, den Strand, die Yacht, die Villa. Der Paranoide ist jetzt in Therapie, er bessert sich. Er habe eingesehen, was er mit seiner Paranoia anrichte, meint er. Er will, dass jetzt alles besser wird. Vielleicht will er ein Haus suchen, für sie beide. Und der Winter ist vorbei, die Sonne scheint jetzt auch hier, es ist warm, aber irgendwie ist es nicht wunderschön, es ist lau, alles ist lau. An einem ganz normalen Morgen steht sie auf, sie hat nachts geträumt, wie sie und der Paranoide in zehn Jahren im Haus mit Garten leben, wie sie immer noch im Hamsterrad steckt und es Winter ist und regnet. Sie quält sich aus dem Bett, wie immer, macht ihr Frühstück, wie immer, und sitzt bei Kaffee und Zigarette am Balkon frierend vor ihrem Laptop.
Am Nachmittag steht sie mit ihrem Rollkoffer in der Halle des Flughafens. Nur das Nötigste hat sie eingepackt, das Handy hat sie liegenlassen. Keinen Zettel, keine Nachricht, das wird hart für den Paranoiden. Ein bisschen tut es ihr leid, jetzt, aber es ist zu spät und er wird es überleben. Sie sieht auf die Uhr und die Anzeigentafel, der Flug wird gleich starten, sie läuft los, Schritt für Schritt, näher, weiter, immer weiter, nach Odessa.

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Dienstag, 18. August 2015
Neuland.
So ein Mist, sagt sie laut vor sich hin, während der Kaffee durch die Kaffeemaschine brodelt und rattert, so ein Mist. Gerade hat sie den jungen Blonden aus ihrer Wohnung geworfen und fragt sich, wie er überhaupt dort hineinkam, sie fragt sich, warum sie sich eigentlich hat breitschlagen lassen gestern. Auf dem Heimweg noch hatte sie doch gesagt, nein, ich gehe alleine., er sagte, ach komm, sei doch nicht so., und sie sagte nein., aber irgendwann hatte sie keine Lust mehr zu streiten, sie hatte keine Lust mehr herumzudiskutieren, und deswegen ging sie dann doch nicht alleine und musste ihn jetzt auch aus ihrer Wohnung werfen. Warum nimmt man überhaupt jemanden mit nach Hause, fragt sie sich. Vielleicht, weil man sich geschmeichelt fühlt. Vielleicht auch nur, weil er Ruhe geben soll. Vielleicht, weil dann zumindest irgendwas passiert. Vielleicht auch, weil man keine Lust auf Liebe hat, vielleicht noch ehesten das.
Sie nimmt ihren Kaffee und denkt daran, was vorher eigentlich passiert war, der junge Blonde saß zwischen lauter jungen Schönheiten und sie saß am Rand, trank zu viel, lachte zu laut und ein älterer Dicklicher legte die Hand auf ihr Bein und schmiegte sich an sie. Der junge Blonde sah hinüber und erhob sich aus dem Kreis der jungen Schönheiten und ging, ausgerechnet, zu ihr. Vielleicht hatte sie ihn also doch nur mitgenommen, weil sie sich geschmeichelt fühlte, vielleicht war es doch das.

Ihr Handy klingelt. Es ist der Techniker, den sie manchmal trifft. Na, war es schön gestern., sagt er. Frag besser nicht., sagt sie und er lacht sein tiefes kehliges Lachen, das wie das Bellen einer Dogge klingt. Du fehlst mir., sagt er. Natürlich fehle ich dir, denkt sie, ich bin ja auch nicht da, aber sie sagt nichts. Dafür hat er ja seine Frau, eine hübsche Frau, sie kennt die Frau von Photos, die ihr der Techniker gezeigt hat. Aber sie will nicht so sein und sagt: Und, sonst alles gut., und er fragt: Hast du heute Zeit., sie seufzt und bejaht und er legt auf. Sie geht zum Briefkasten und zieht einen Umschlag heraus, vom Techniker, komisch, er hat gar nichts gesagt. Eine CD ist darin und ein Zettel: Dachte das dir das gefallen könnte., sie ignoriert die falsche Rechtschreibung, legt die CD ein und hört das Lied, dass sie beim letzten Tanzabend mit dem Techniker gehört hatte. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen, leert ihren Kaffee und fragt sich, ob sie doch zu hart war.

Kaum verlässt sie das Haus, holt sie sich an der nächsten Ecke wieder einen Kaffee, sie kann nicht gut schlafen in der letzten Zeit, oft nickt sie erst gegen zwei Uhr morgens ein und um vier Uhr ist sie schlagartig wieder wach, verdreht die Augen, sieht auf die Uhr, bekommt Schlafpanik, als sie merkt, dass diese Nacht wieder nichts hergeben wird, legt sich seufzend wieder hin und wartet auf den Schlaf, der einfach nicht kommen will.
Zum Mittagessen trifft sie sich mit dem Techniker, er sitzt dort und lacht, sie setzt sich zu ihm und beide essen. Er erzählt aus seiner Arbeit, er erzählt eigentlich bei jedem Treffen dieselben Geschichten. Manchmal denkt sie, sie müsste ihm das sagen, dass er immer nur das Gleiche erzähle und sie die Story mit dem Chef, der bei der Arbeit einschlief, schon in und auswendig könne, aber am Schluss müsste sie dann ja selbst reden, also hört sie lieber mit halben Ohr hin, wirft ein hmm, ja, achso, na dann. ein und isst. Nach dem Essen geht der Techniker ganz selbstverständlich mit zu ihr nach Hause, das ist gar keine Frage für ihn, es ist ja alles so wie immer. Nur eines ist nicht so wie immer, es geht etwas schief und als er neben ihr liegt und sich eine Zigarette anzündet, sagt er: Gehst du zum Arzt, nur zur Sicherheit., er fragt nicht, er sagt es einfach, und sie sagt: jaja. Ich kann dich auch zum Zug fahren, du musst heute doch noch weg, sagt er. und sie sagt: Danke, ist schon ok.
Sie sitzt später im Zug und wählt schon die Nummer des Arztes, als ihr ein seltsamer Gedanke kommt. Gerade als sich die Praxis meldet, legt sie wieder auf. Vielleicht geht sie nicht zum Arzt, vielleicht, sie will darüber nicht nachdenken, über das vielleicht und über das eigentlich, das alles ist zu seltsam und zu absurd, als dass sie das überhaupt verstehen würde.

Abends trifft sie eine alte Freundin, sie sitzen in einer Bar, trinken Cocktails. Stunden später sind sie immer noch wach, versuchen einen Club zu finden, der noch geöffnet ist und sie stolpert dabei über einen Fahrradständer, fällt einem dunklen Mann in die Arme, der sie daraufhin überreden will, mit ihm mitzugehen, ihr ist schwindlig und gleichzeitig ist alles ganz klar, sie sagt ja, aber ihre Freundin zieht sie von ihm weg und in den nächsten Club. Es ist laut, es dröhnt, es ist eng, alles ist eng und laut und dröhnt und irgendwann ist da ein Typ, der sie in den Arm nimmt, der ihren Namen wissen will, der sie küsst, ganz sanft und ihr ist alles egal, der Techniker, der junge Blonde, dessen Name sie schon lange vergessen hat, aber ihre Freundin, ihre Freundin zieht sie aus dem Club, der Typ ruft noch hinterher, halt, ich habe deine Nummer doch gar nicht., aber es ist besser so, denkt sie, bestimmt ist alles besser so.
Als sie am nächsten Tag auf dem Weg nach Hause sitzt, hat sie den Arzt immer noch nicht angerufen. Aber auch der Techniker meldet sich nicht. Sie schreibt ihm einmal, zweimal, und fragt sich, ob seine Frau vielleicht inzwischen doch etwas mitbekommen hat. Kein Wunder, soviel wie er an seinem Handy und Pc hängt, kein Wunder, dass seine Frau misstrauisch wird, aber so ist das eben. Sie denkt daran, was für große Worte ihr schreibt und dann, wenn er da ist, doch immer nur seine immergleichen Geschichten erzählt. Wie er immer wieder absagt und meint, ich glaube, das ist alles gegen uns. Vielleicht sollte sie den Arzt jetzt aber auch mal wirklich anrufen. Ja, bestimmt, denkt sie, bestimmt. Aber sie tut es noch immer nicht.

Wochen später hat sich der Techniker immer noch nicht gemeldet. Sie ist im Kopf zuerst alle unverschuldeten Varianten durchgegangen, Mord, Unfall, Entführung, aber neulich fuhr er dann doch im Auto an ihr vorbei. Hat seine Frau also etwas mitbekommen, oft genug hatte sie gedacht, was denn wäre, wenn sie die Frau treffen würde, was sie ihr sagen würde. Ob sie ihr sagen würde, dass sie den Techniker nicht trifft, obwohl er eine Frau hat, sondern weil. Und dass sie es nur tut, weil sie weiß, dass diese Frau so schön und nett ist, dass er sie sowieso nicht verlassen würde.
Die Tage und Wochen vergehen und mit jedem Tag, den der Techniker sich nicht meldet, merkt sie, dass sie vielleicht den Arzt doch hätte anrufen sollen. Aber es ist zu spät, es ist schnell zu spät bei sowas, ein, zwei Tage, schon ist alles vorbei, schon lässt sich nichts mehr ändern. Nichts lässt sich mehr ändern, sagt das Kind in ihr, jetzt bin ich da und du musst mit mir klarkommen. Abwarten, sagt sie zum Kind, abwarten.
Sie überlegt, wie das werden soll, ob sie das aushält, wenn das Kind aussieht wie der Techniker oder noch schlimmer, wie sie selbst, und sie fragt sich das jeden Tag, wenn sie einkaufen geht und sie das Portemonnaie aus der Tasche nimmt und dabei auf ihren Bauch sieht und das Kind mit den Augen des Technikers heraussieht, und sie zurückstarrt und denkt, nein, das kann es doch nun auch nicht sein.

An irgendeinem Tag steht sie frühmorgens auf. Seit sie das Kind mit sich herumschleppt, kann sie wieder schlafen, sie holt sich trotzdem einen Kaffee, setzt sich in den Park und hält sich an dem dampfenden Becher fest. Eine Ente watschelt gemütlich von links nach rechts. Sie denkt lange nach. Irgendwann sieht sie ihren Bauch an und das Kind starrt zurück, mit den dunklen Technikeraugen, und sie fasst einen Entschluss.
Am Abend sitzt sie an ihrem Schreibtisch. Der Apotheker hatte sie seltsam angesehen, also hat sie sämtliche Apotheken der Stadt abgeklappert, aus jeder Apotheke hatte sie eine Packung Schlafmittel geholt, sie drückt alle Schlafmitteltabletten aus der Packung und legt sie zu einem Bild auf den Tisch. Wiese, Blumen, Sonne, alles aus kleinen weißen Tabletten. War es das schon mit mir, fragt das Kind, darf ich gar nichts sehen von der Welt., und sie sagt: Ach sei froh über alles, was du nicht sehen musstest. Sie legt die Hand auf ihren Bauch und das erste Mal streichelt sie das Kind und sagt: Es wird ganz schnell gehen und nicht weh tun, und das Kind sieht sie an, diesmal mit ihren eigenen Augen und sagt: in Ordnung. Zuerst die Wiese, dann die Blumen, dann die Sonne, Stück für Stück schluckt sie eine Tablette nach der anderen, schließt die Augen, spürt auch, dass das Kind die Augen fest geschlossen hat und beide zählen rückwärts von zehn, wohl wissend, dass sie die eins nicht mehr erleben werden.

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Samstag, 15. August 2015
Fische.
Er hat Augen wie ein Fisch, denkt sie. Wie ein Fisch, und sieht ihn an. Seine Haut ganz blass und dreckig, wie Kiemen der Mund, das schwarze Haar fällt ihm über die Augen, aber die Augen, er hat Augen wie ein Fisch.
Sie fragt sich, warum er überhaupt hier herumsitzt, hier in ihrer Wohnung, in ihrem Wohnzimmer, auf ihrer Couch. Warum in aller Welt sitzt er noch hier, warum hat sie ihn nicht längst hinausgeworfen. Er sieht nicht nur aus wie ein Fisch, er riecht auch noch so. Raus mit ihm, raus.
Aber sie bleibt dann doch sitzen und sieht ihn an, den Fisch. Wie kam es überhaupt, dass er hier gelandet ist, in ihrer Wohnung, in ihrem Wohnzimmer, auf ihrer Couch. Sie erinnert sich, dass es einen Mann gab, vor dem Fisch. Es gab einen Mann, der sie küsste, der sie anlächelte, sie in den Arm nahm und ihr süße Dinge ins Ohr flüsterte. Doch irgendwann flüsterte er nicht mehr, er nahm sie auch nicht mehr in den Arm, er lächelte nicht mehr und küsste sie auch nicht mehr. Stattdessen sagte er, er wäre sich nicht sicher. Sie sagte, sie kann warten. Die Zeit verstrich. Sie sah ihn erst mit einer kleinen Rothaarigen, dann mit einer kleinen Blonden. Sie war weder rothaarig noch klein noch blond und fragte irgendwann: Bist du dir jetzt sicher? Und er sagte: Tut mir leid.
Der Mann schrieb ihr aber weiterhin und irgendwann, als sie den Fisch traf und er sie ansah aus seinen kalten Augen, sagte der Mann: nimm den Fisch. Er ist besser als nichts, besser als Alleinsein. Und sie sagte: Aber ohne Liebe? Und er sagte: Man kann auch ohne Liebe lieben.
Nein, kann man nicht, denkt sie nun, während sie den Fisch ansieht. Er starrt vor sich hin. Eigentlich wäre er bestimmt nett. Eigentlich wäre er ein lieber, aufmerksamer Fisch, wenn sie nicht sie wäre und der Fisch nicht der Fisch. Sie macht ihn zum kalten, glitschigen, übelriechenden Geschöpf, das er ist, das er in ihren Augen wird, weil sie ihn nicht liebt, nie geliebt hat und nie lieben wird.
Sie hat jetzt ein bisschen Mitleid mit ihm, wie er so dasitzt, gekrümmt, schief, wie er eben ist. Neulich sagte er zu ihr, er verstünde nicht, wie man sie eigentlich mögen oder gar lieben könne, und als sie ihn fragte, warum er denn dann hier sei, in ihrer Wohnung, ihrem Wohnzimmer, auf ihrer Couch, sagte der Fisch: Ich kann nichts tun gegen meine Gefühle, ich hasse mich selbst dafür.
Sie hatte den Satz schon öfters gehört, dass es unverständlich sei, wie jemand sie mögen oder gar lieben könne. Je öfter sie ihn hört, desto mehr überlegt sie, ob es vielleicht stimmen könnte, ob es tatsächlich unverständlich sei, wie jemand sie mögen oder gar lieben könne. Man sagt ja, stille Wasser sind tief, aber manchmal glaubt sie, dass, obwohl sie recht still scheint, sich schnell herausstellt, dass sie kein tiefes Gewässer ist, sondern nur eine kleine Ansammlung von Regenwasser auf einem Weg. Weder tiefgründig noch schön, einfach nur ein bisschen Matschwasser nach dem Unwetter. Kurz da, gleich wieder weg, nur an der Oberfläche.
Und wenn schon, denkt sie, wenn schon. Zumindest kann man in mir dann nicht ertrinken, sie wird wütend, während sie das denkt, und wenn schon, dann bin ich eben nur Matschwasser nach dem Unwetter, es kann ja nicht jeder gleich ein Pazifik sein, und wenn schon, dann kann sich der Fisch ja auch ein anderes Gewässer suchen, sie wird ganz unruhig vor Wut, sie springt auf, geht zum Fisch, packt ihn und wirft ihn in hohen Bogen in sein Aquarium.

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Montag, 27. Juli 2015
Horizontale (1-8).
Die Frau steht im Supermarkt und knallt einen Strauß Blumen auf das Band, hinter den sie eine Schachtel Pralinen legt. Sie kauft das alles, die Pralinen, der Strauß Blumen, und dabei ist es gar nicht ihre Mutter, die Geburtstag hat, es ist die Schwiegermutter, die Mutter des Mannes, der Mann, der jetzt gerade, ja eigentlich, wo ist? Der Mann ist nicht da, die Schwiegermutter hat aber nunmal Geburtstag und so ist es die Frau, die jetzt im Supermarkt steht, einen Strauß Blumen auf das Band knallt, dahinter eine Schachtel Pralinen legt, der Strauß, die Pralinen, die Schwiegermutter.
Der Mann steht währenddessen mit der Geliebten auf dem Balkon, Schweiß und Liebe in der Luft, er raucht, er sieht hinaus, er denkt an die Geliebte, an die Arbeit, an alles, aber nicht an die Frau und nicht an die Schwiegermutter, die doch eigentlich seine Mutter ist, er denkt an die Geliebte und nicht an die Frau, er denkt an die Arbeit und nicht an den Geburtstag der Mutter. Der Blick schweift vom Balkon aus über die Gärten, über die Familien, die den Sonntagmorgen mit einem Frühstück im Garten beginnen, gedankenverloren betrachtet er schräg gegenüber, wie ein Paar zu Besuch bei den Eltern kommt und die Mutter den Kuchen anschneidet, die Mutter, er zuckt, die Mutter, Geburtstag, was ist mit Blumen, der Strauß, die Pralinen, die Mutter.
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Die Frau läuft schweigend durch den Park, den Strauß Blumen in der Hand, die Pralinen unter den Arm geklemmt, in der anderen Hand eine Zigarette, sie geht vorwärts, scheint aber lieber rückwärts gehen zu wollen, für jeden einzelnen Schritt setzt sie den Fuß nach vorne und wünscht doch gleichzeitig, der Fuß würde wie von einer unsichtbaren Kraft zurückgezogen und sie in eine andere Richtung bewegen. So geht es Schritt für Schritt vorwärts und eben nicht rückwärts, denn da ist keine unsichtbare Kraft, da sind nur die Schritte, und die gehen eben vorwärts, einer vor den anderen, bis da die Tür ist, die Tür der Mutter des Mannes, der Schwiegermutter. Die Frau drückt die Zigarette mit dem Fuß aus, atmet noch einmal tief ein und klopft.
In dem Moment, in dem die Tür aufgeht und das Gesicht der Schwiegermutter erscheint, bewegen sich mechanisch wie bei einer Marionette die Mundwinkel der Frau nach oben. Ja, schön, dich zu sehen, sagt sie, und die Schwiegermutter sagt nur: Wo ist mein Sohn?. Ich denke arbeiten, sagt sie, aber er wird bestimmt nachkommen.
Kurz darauf sitzt sie schon am Tisch, die Pralinen sind verstaut worden, der Strauß Blumen steht in einer ausnehmend scheußlichen Vase vor ihrem Teller mit dem Kuchen darauf, ein Kuchen, trockener als die Wüste, so staubig, dass, sobald man mit der Gabel in ihn hineinsticht, man glauben könnte, einen wahrhaftigen Wüstensturm zu sehen. Wo ist mein Sohn?, fragt die Schwiegermutter wieder. Ich denke arbeiten, wiederholt sie, aber er wird bestimmt nachkommen. Die Schwiegermutter schnaubt: Seine eigene Mutter vergessen, das wäre ihm früher nie passiert. Erst, seit er mit dir verheiratet ist, ist er so. Die Frau zieht wieder die Mundwinkel nach oben und schweigt. Es läutet an der Tür.
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Ich mache schon auf, sagt die Frau, steht auf und scheint froh zu sein, endlich wegzukommen, von der ausnehmend scheußlichen Vase, dem staubtrockenen Kuchen und vor allem aber von der Schwiegermutter, also steht sie auf, geht zur Tür und öffnet. Der Mann, der ähnlich wie kurz vorher noch seine Frau zeitgleich mit dem Öffnen der Tür die Mundwinkel nach oben gezogen hat, stutzt kurz, da die Frau, seine Frau, und nicht die Schwiegermutter, seine Mutter, vor ihm steht. Er richtet zeitgleich mit dem Jackett sein Gesicht und setzt stattdessen ein schuldbewusstes Lächeln auf: Tut mir leid, ein Kollege ist krank geworden.
Die Frau sieht ihn an, packt seinen Arm und zieht den Mann hinein, erst in den Flur, dann durch die Tür daneben ins Bad und schließt die Tür hinter ihm. Ein Kollege also, sagt sie, nimmt das Handtuch neben dem Waschbecken, feuchtet es an und beginnt, den Lippenstiftfleck vom Kragen des Mannes, ihres Mannes, zu wischen, und ignoriert dabei dessen sich vor Scham immer röter verfärbendes Gesicht.
Schatz, es ist nicht so, wie..., beginnt er, aber sie schüttelt den Kopf. Ist schon gut, sagt sie, lass uns den unseligen Geburtstag einfach hinter uns bringen. Er nickt, und nachdem sie den Lippenstiftfleck, den die Geliebte kurz vorher nicht ganz unabsichtlich gut sichtbar auf dem Kragen platziert hat, so gut es geht weggewischt hat, wirft sie ihm einen langen Blick zu, er nickt, und sie gehen hinaus.
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Auf der Fahrt zurück herrscht Schweigen, aber daran sind beide längst gewöhnt. Der Mann merkt irgendwann, dass er seinen Ehering, den er vor dem Besuch bei der Geliebten immer abzieht, um das schlechte Gewissen ein bisschen zu mindern, noch nicht wieder an den Finger gesteckt hat, und versucht umständlich, ohne dass die Frau es bemerkt, während der Autofahrt den Ring irgendwie wieder an den Finger zu bekommen. Die Frau verdreht irgendwann die Augen, seufzt, und zieht ihm den Ring mit einer Bewegung über den Finger, lässt sich wieder in den Sitz fallen und sieht aus dem Fenster.
Rot, du Arschloch!, brüllt der Mann los und schlägt mit der Faust auf die Hupe. Die Frau schüttelt den Kopf und sieht genervt aus dem Fenster. Was, was ist?, sagt er gereizt, und sie: Ach komm, lass mich doch. und schweigt wieder.
Zuhause knallt sie die Autotür zu, sperrt die Haustür auf, und verschwindet in ihrem Arbeitszimmer. Er geht in die Küche, lässt sich auf einen Stuhl fallen und sieht nachdenklich das Hochzeitsbild im Eck an. Lachen, Strahlen, Glück, irgendwann ist alles Leere, Schweigen, Schuld. Wie es kommt, wann es kommt, wieso es kommt, wer weiß das schon. Das Handy vibriert. Die Geliebte, wann sagst du es deiner Frau, wann trennst du dich, Trennung, Entscheidung, wer entscheidet sich schon, vielleicht entscheidet man sich auch immer nur für den, der am längsten die Füße stillhält, ja vielleicht, vielleicht ist das so.
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Die Frau steht in der Küche und schenkt sich eine Tasse Kaffee ein. Während sie die Kaffeekanne in der Hand hält, fällt ihr Blick auf ihren Ehering, eine Weile betrachtet sie ihn nachdenklich und zieht dann schließlich eine zweite Tasse aus dem Küchenschrank und schenkt auch in diese Kaffee ein. Mit beiden Tassen in den Händen geht sie barfuß die Treppe zum Arbeitszimmer des Mannes nach oben. Die Tür ist nur angelehnt, sie lugt durch den Spalt hindurch und sieht ihn, wie er vor dem Spiegel steht.
Ich habe jemanden kennengelernt, sagt er zu seinem Spiegelbild: ich habe jemanden kennengelernt und mich verliebt, ach, er bricht ab, fängt dann doch wieder an: ich weiß nicht, unsere Ehe ist so... doch so geworden wie alle anderen Ehen, dabei wollten wir das doch nie und jetzt, irgendwann habe ich sie kennengelernt und mich verliebt und, er atmet durch: sie will, dass ich mich trenne, er bricht ab und sagt leiser: ich will mich aber nicht trennen, ich kann das gar nicht, ich..., er schweigt.
Die Frau hält den Atem an und die Tassen immer noch in den Händen. Ganz leise und vorsichtig schleicht sie auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, um dann festen Schrittes laut hörbar und sich räuspernd die Treppe wieder hochzustampfen. Schon bevor sie die Tür öffnet, sagt sie laut: Schatz, ich habe Kaffee mitgebracht.
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Das Handy des Mannes vibriert und vibriert, abwechselnd Nachrichten und Anrufe, er sitzt daneben, hat die Brille abgenommen und sieht müde aus. Die Frau stellt ihm einen Kaffee hin: Willst du nicht mal drangehen?, aber er schüttelt den Kopf. Die Frau geht zurück in die Küche und schneidet weiter Gemüse, als sie durch das Küchenfenster einen Sportwagen vorfahren sieht. Die Geliebte steigt aus, ihr Gesicht hat sich vor Wut rot verfärbt, sie wirft knallend die Autotür zu und läuft, rennt zur Haustür. Im nächsten Moment klingelt es Sturm. Der Mann erhebt sich langsam von der Couch und geht nun, wie wenige Tage zuvor seine Frau zur Schwiegermutter, mit diesen Schritten vorwärts zur Tür, mit diesen Schritten, die sich wünschten, sie würden in die andere Richtung führen.
Als er die Tür öffnet, schreit ihm die Geliebte entgegen: Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Glaubst du, ich lasse sowas mit mir machen? Dass du mich einfach ignorierst, du bist das Allerletzte - meinen Job und die Wohnung habe ich gekündigt, das war es für mich, schreit sie und wirft ihm eine Tasche mit seinen Sachen, die er in ihrer Wohnung hatte, entgegen. Sie dreht sich um, stößt sich an dem Blumenkübel neben der Tür, schreit noch einmal vor Wut laut auf, setzt sich in den Wagen und fährt mit durchdrehenden Reifen vom Vorplatz.
Die Frau, die dem Wagen noch durch das Küchenfenster nachsieht, murmelt: Irgendwie kann ich sie ja verstehen., seufzt, und geht ins Wohnzimmer. Der Mann hat sich wieder auf die Couch gesetzt und vergräbt das Gesicht in seinen Händen. Die Frau setzt sich neben ihn, legt ihren Arm um ihn und zieht ihn an sich. Er weint. Nun komm, wird doch alles wieder., sagt sie, hält ihn fest und streichelt seinen Rücken und sein Haar. Nun sieht auch sie das Hochzeitbild gegenüber lange an.
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Am nächsten Morgen wacht die Frau spät auf, grelles Licht scheint bereits durch die Vorhänge. Sie steht auf und geht nach unten in die Küche. Auf dem Tisch steht Frühstück, frische Brötchen, Kaffee in der Thermoskanne, Blumen. Ein Zettel: Musste zu einem Patienten, 1000 Küsse, ich liebe Dich., die Frau setzt sich, nimmt den Zettel in die Hand, plötzlich knüllt sie ihn zusammen und schreit auf, sie weint.
Kurz darauf verlässt sie das Haus, sie fährt mit dem Bus zum Bahnhof, dann weiter mit der Bahn, sie sieht ihr Spiegelbild in der Scheibe an, sie sieht sich selbst in die Augen, lange, eindringlich, aber keiner zwinkert, keiner sieht weg. Sie starrt die ganze Fahrt über in ihr eigenes Gesicht, aber es will einfach keine Reaktion kommen.
An der ihr bekannten Haltestelle steigt sie aus. Den Rest läuft sie zu Fuß, sie kennt den Weg, sie kennt ihn gut von unzähligen Malen, den sie ihn gelaufen ist. Dort vorne noch bis zum Hochhaus, dann ums Eck hinein ins Wohngebiet, dort drüben vorbei an den Gartenzäunen hin bis zu einem Kindergarten. Sie stellt sich vor das Gittertor, Kindergeschrei vermischt sich mit Vogelsingen, sie sieht einige Kinder, die soeben nach außen gebracht werden, von zwei Frauen. Die eine sieht sie an und sie sieht zurück. Die Rothaarige sagt zu ihrer Kollegin: Warte kurz, ich bin gleich zurück.
Sie läuft auf die Frau zu, schnell, und Schritt für Schritt lächelt sie mehr: Na endlich, sag mal, wo warst du denn die ganze Zeit?, aber die Frau sagt nichts. Die Rothaarige kommt aus dem Gittertor und zieht die Frau beiseite: Ich habe dich vermisst. Die Frau sagt: Ich dich doch auch, und küsst die Rothaarige.
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Als die Frau zurückkommt, steht der Mann auf dem Garagenvorplatz und lächelt. Sie sieht ihn fragend an, aber er hält ihr seine Hand hin und sagt: Augen zu., erst in der Garage macht sie ihr Augen auf und sieht das Cabrio. Im Abendlicht fahren sie, sie sitzen im Fahrtwind und irgendwann tastet sie nach seiner Hand und so sitzen sie und schweigen und lächeln.
Am nächsten Tag geht die Frau in die Stadt, sie schlendert durch die Fußgängerzone, als plötzlich eine bekannte Stimme Hallo! ruft, die Rothaarige sitzt dort, mit ihrem Mann, ihren beiden Kindern, die Frau winkt und lächelt ihnen zu, sie schweigt und geht weiter. Sie weiß, der Mann wird heute in der Arbeit seine neue Kollegin kennenlernen. Sie hat gehört, dass sie hübsch sein soll.

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