Akten und Zeichen.
Die Uhr macht tick, tack, tick, tack, während sie im Wartezimmer sitzt und den Zeiger beobachtet. Der Sekundenzeiger dreht hektisch Runde um Runde, aber inzwischen hat auch der Minutenzeiger schon zwei Runden gedreht. Sie atmet tief durch und denkt, die Zeit kann sie sowieso nicht ändern, da hilft das ganze auf-die-Uhr-starren und aufstöhnen und sowieso alles nichts. Trotz allem schleichen um sie herum einige der Menschen, die ebenfalls seit Stunden warten, und heben alle paar Augenblicke den linken Arm mit einer Bewegung, die zugleich den linken Ärmel zurückschiebt, um auf ihre Armbanduhr zu lugen, aufzustöhnen und den Kopf zu schütteln, nur um denselben Vorgang alle paar Minuten zu wiederholen.
Ein anderer Patient setzt sich auf den Platz neben ihr. Unruhig atmet er, und als er sich eine Zeitung vom Tisch nehmen will, stößt er ihr Glas um: Oh, Entschuldigung., er will das Glas wieder aufrichten und macht damit alles nur schlimmer: Lassen Sie's gut sein., sagt sie und berührt ihn beruhigend am Arm. Sie merkt, dass er versucht, ruhiger zu atmen, aber es gelingt ihm nicht, und kurzerhand nimmt sie seine Hand und drückt sie. Er sieht sie verdutzt an, aber sie starrt einfach weg und hält seine Hand ganz fest, solange, bis er sich entspannt und sich sein Atem beruhigt. Gerade ist auch sie ganz entspannt mit der fremden Hand in ihrer Hand, als sie aufgerufen wird, die Hand des anderen loslässt und in den Aufnahmeraum geht.

Sie tritt ein und der Arzt, der dort sitzt, hebt die Augen über den Rand seiner Brille und signalisiert ihr damit, ohne sie anzublicken, Platz zu nehmen. Er stellt ihr Frage um Frage, sie beantwortet eine um die andere möglichst ohne Umwege, bis er zufrieden scheint und den Wagen mit den Untersuchungsinstrumenten heranzieht. Als er in ihrer Nase und ihrem Mund herumstochern will, schiebt er, um möglichst nahe ranzukommen, seinen Oberschenkel zwischen ihre Beine, sie denkt, er muss Fußballer sein, so muskulös wie sein Oberschenkel ist, und sie sieht weg, während er mit dem Stochern beginnt, sie sieht weg und sieht auf seine rotblonden Haare im Nacken. Mittendrin sieht sie doch in sein Gesicht, aber dann wirft er ihr einen stechenden Blick mit seinen braunen Augen durch das schwarze Gestell der Brille zu und sie konzentriert sich lieber auf die Nackenhaare, die in der Sonne hell schimmern. Plötzlich geht es ganz schnell, der Arzt zieht seinen Oberschenkel zwischen ihren Beinen hervor, packt eine schwarze Akte auf den Tisch und sagt: Die wird jetzt ihr wichtigster Begleiter. Sie packt die schwarze Akte unter den Arm und tritt spätestens mit dem Schritt in Patientenzimmer für die nächsten Tage ein in ein ganz seltsames ruhiges und fremdbestimmtes Leben. Morgens aufstehen, Frühstück, Anstehen vorm Behandlungszimmer, Mittagessen, Pflegervisite, Kaffeetrinken, Abendessen, Abendvisite, Licht aus, Nachtruhe, Schluss. So ähnlich zählt ihr später der Arzt die Risiken auf: Durchtrennung der Hirnschlagader, Blutungen, Schlaganfall, Herzstillstand, Tod. Da müssen Sie dann unterschreiben., sagt er, und sie führt die Hand über das Unterschriftsfeld.
Sie fragt sich, was eigentlich passieren müsste, dass der Arzt sie bemerken würde und nicht nur die Augen über die Brille ins Nichts heben würde, aber ihr fällt nicht viel ein. Vielleicht müsste sie ein besonders schwieriger Fall sein, besonders krank, besonders hoffnungslos, vielleicht hätte er dann Mitleid oder würde sie zumindest als Kuriosität erinnern. Aber während sie das denkt, sagt er schon: Haben Sie noch Fragen, nein, gut, dann gehen sie jetzt zum Anästhesiegespräch. Sie steht auf und er mahnt: Vergessen Sie ihre Akte nicht., sie klemmt also die schwarze Akte wieder unter den Arm und läuft Stufe um Stufe zur Anästhesie. Die Tür steht offen, sie schielt vorsichtig hinein und blickt direkt in ein Paar dunkle Augen. Der Anästhesist lächelt: Kommen Sie ruhig rein., sie setzt sich, lächelt auch und beantwortet auch dem Anästhesisten Frage um Frage. Als auch er am Ende zufrieden die Dokumente in die Aktenmappe steckt, zögert sie einen Moment und fragt: Können Sie bei mir dabeisein?, sie fragt ganz schüchtern, und er sieht sie an und sagt: Tut mir leid, dafür ist mein Kollege schon eingeteilt. Sie verzieht die Mundwinkel zum Lächeln und geht mit ihrer Akte zurück auf ihr Zimmer.
Sie denkt an die Operation am nächsten Tag, man hat ihr ein Schlafmittel gegeben, aber sie kann nicht schlafen, sie denkt, es muss etwas passieren, Komplikationen gibt es doch immer, sie denkt daran, wie der Arzt und der Anästhesist ganz besorgt wären, wie sie statt der Akte sie selbst ansehen würden, alles versuchen würden, dass es ihr besser ginge, aber dann denkt sie sich, wie albern dieser Gedanke doch ist, und schläft dann doch ein.

Am nächsten Tag muss sie sich ausziehen, sie liegt nackt in diesem weißen Bett in ihrem weißen Hemdchen und wird durch diese weißen Gänge geschoben. Man hat ihr wieder Tabletten gegeben, zum Beruhigen, aber sie will sich nicht beruhigen, sie wehrt sich gegen die Tabletten, mit aller Kraft, sie beginnt, während das Bett nach unten geschoben ist, zu rechnen, die Deckenfliesen zusammenzuzählen, wach bleiben, wach bleiben, sagt sie sich und ist dann doch etwas benommen, als sie auf eine andere Liege klettern soll. Ein älterer Mann beginnt, sie zu verkabeln und sie denkt, vielleicht ist das der Kollege des Anästhesisten, schade, dass er nicht dabei ist, sie sieht an die Decke und zählt wieder die Fliesen, wach bleiben, wach, und dann sieht sie wieder an die Decke und plötzlich in die dunklen Augen des Anästhesisten.
Sie sind ja doch da., entfährt es ihr und er lächelt, er habe den Dienst getauscht, fühlt ihren Puls und sagt: Ist denn alles okay, sind Sie aufgeregt?, sie sagt: nein, nein., und er sagt: Ihr Puls sagt aber etwas anderes., sie denkt, der Puls ist nur so hoch vom Deckenfliesenzusammenzählen und vom In-die-dunklen-Augen-des-Anästhesisten-schauen, nicht vom Aufgeregtsein, aber das sagt sie nicht. Er schiebt die Armschiene hin und her, legt die Plastikmaske auf ihr Gesicht und sagt: Wir sehen uns beim Aufwachen, träumen Sie was Schönes., sie will noch sagen: Ich weiß auch schon was., aber spürt nur noch, wie der Anästhesist ihr Bein berührt und ist weg.

Sie ist weg, sie ist wirklich weg, in einem Zwischenraum, da ist nur eine Bank, eine Bank im Park, überall liegt Herbstlaub am Boden und irgendwo steht eine Engelsstatue aus Stein, sie sitzt auf der Bank, plötzlich liegt sie wieder auf dem Parkboden und sitzt dann wieder auf der Bank, überall hat sie Herbstlaub, wenn sie die Hände öffnet, ist alles ganz staubig vom zerbröckelten Laub, sie sieht den Engel aus Stein an und er sieht mit den dunklen Augen des Anästhesisten zurück, ihr ist schlecht dort auf der Bank, ganz kurz ist sie wieder im weißen Zimmer, der Anästhesist und eine Schwester beugen sich besorgt über sie, die überall blutet und sie hört ihn sagen, man solle noch ein paar Kühlakkus bringen, dann sieht sie wieder seine Augen nur im Steinengel, sitzt wieder auf der Bank in einem riesigen Haufen Laub und starrt vor sich hin.

Plötzlich wacht sie auf, sie fühlt sich, wie als hätte man ihr den Steinengel auf den Kopf gedonnert, alles schwirrt, eine Schwester kommt und blafft: Ach, sind Sie wach., sie sagt: Mir ist kalt., und die Schwester spritzt ihr Schmerzmittel, dabei ist ihr doch nur kalt von den ganzen Kühlakkus im Nacken. Wenig später darf sie schon auf ihr Zimmer geschoben werden, eine nette Schwester hilft ihr in die Kleidung, dass sie ihr Hemd und die Nacktheit loswird, aber als sie in den Spiegel schaut, kommt sie sich doch wie geschlagen vor, alles ist blutig und blau. Aber keine Komplikation, es gab keine Komplikation, dabei gibt es doch immer Komplikationen, immer bei den falschen Menschen gibt es die, und deswegen sehen der Arzt und der Anästhesist auch nur die Akte, die schwarze Mappe mit den ganzen Dokumenten drin, und nicht sie.
Sie taucht ein in den Alltag von schlafen, Untersuchungen, essen, noch mehr essen, noch mehr Untersuchungen und noch mehr schlafen. Sie lässt sich treiben durch den Tag ohne Inhalt, ohne Ziel, ohne irgendwas. Einmal sieht sie den Anästhesisten durch ein Fenster, er telefoniert und bemerkt sie nicht. Doch dann kommt eines Morgens der Arzt wieder in ihr Zimmer. Er hebt wie immer seinen Blick über die Ränder der schwarzen Brille und sagt, ohne sie anzusehen: Wie geht es Ihnen., sie sagt: gut., und er: Wunderbar, dann können Sie gehen., sie sagt: Jetzt schon., und er sagt: Wir brauchen das Bett., ganz schlicht und kurz: Hier sind die Entlassungspapiere, da unterschreiben, dann können Sie gehen., sie unterschreibt geistesabwesend, sie sieht ihn an und wartet, ob noch etwas kommt, sie denkt, das kann doch nicht sein, erst keine Komplikation und jetzt auch noch früher entlassen, exzellente Wundheilung, alles außergewöhnlich gut, warum ich, warum ich, warum ausgerechnet ich, aber dann hört sie den Arzt sagen: Wir müssen natürlich noch die Biopsie abwarten, ob auch alles gutartig ist., und sie sagt: Ach so. und horcht auf.
Während sie ihren Koffer packt und bemerkt, wie der Arzt unruhig mit dem Fuß wippt, weil sie ihm nicht schnell genug weg ist, denkt sie, vielleicht ist die Biopsie meine Rettung, vielleicht ist etwas bösartig, vielleicht bemerkt sie der Arzt dann, oder der Anästhesist sieht ihr wieder in die Augen, sie sieht seine dunklen Augen vor sich und muss plötzlich an einen Steinengel denken, sie versteht nicht warum, aber dann hört sie das ungehaltene Räuspern des Arztes, wirft sich ihre Tasche über und verlässt das Krankenhaus.

Vierzehn Tage später sitzt sie wieder im Wartesaal. Vierzehn Tage hat sie darüber nachgedacht, was sie ändert, wenn etwas bösartig ist, sie denkt daran, wegzufahren, endlich ihren Job zu kündigen, endlich alles neu zu machen, sie denkt an den Anästhesisten mit seinen dunklen Augen, vielleicht hat er ja Mitleid, oder der Arzt mit seinen rotblonden Haaren, wie schön es wäre, mit ihm im Abendlicht zu sitzen, Essen zu gehen, aufs Land oder in die Stadt zu fahren, überallhin, Hauptsache ein neues Leben, ein anderes, nicht mehr das ihre. Sie wird ganz euphorisch bei diesen Gedanken, und als ihr Name aufgerufen wird, springt sie förmlich von ihrem Stuhl, läuft federnd in das Besprechungszimmer und setzt sich gutgelaunt hin. Guten Tag, Frau...wie war nochmal Ihr Name., sagt der Aktenmann und macht sich dann doch nicht die Mühe, nachzusehen. Er zieht aus der schwarzen Akte ein Blatt, das entscheidende Blatt, denkt sie, das Blatt zu einem neuen Leben, er nimmt es in die Hände, und sagt: Alles gutartig, alles super. Herzlichen Glückwunsch.

Es ist ihr, als hätte er sie geohrfeigt. Gutartig, warum gutartig, warum super, was ist daran Glückwunsch, sie schnaubt auf, wirft dem Aktenmann das Blatt ins Gesicht und rennt türenknallend aus dem Besprechungszimmer. Sie kann es nicht fassen, kann nicht glauben, dass sie in ihr Leben, so wie es ist, zurückkehren muss, dass das alles nichts verändert hat, dass sie keine Chance bekommt, dass einfach alles - sie stockt in den Gedanken, als der Arzt ihr entgegenkommt. Er wirft ihr einen Nicht-Blick durch die Brille zu und nickt, als er an ihr vorbeigeht. Er hat sie nicht einmal erkannt.

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