Strasbourg II. Nicht Julie.
Ich wollte im Café schreiben. In einem richtig schönen französischen Café, stilecht mit dem Kellner plaudern und à la manière française inspiriert dort sitzen und Wort für Wort zu Blatt bringen. Ich wollte im Café schreiben, oder zumindest im Park, im Parc de l'Orangerie, oder dem Jardin botanique, in einem Café oder in einem Park oder in einem Café in einem Park. Doch weit gefehlt. Mich schlug stattdessen meine Minderwertigkeitsmelancholie nieder, die mich immer im fremdsprachigen Gebiet mit multilingualen Freunden ergreift. Man plaudert in fließendem Französisch, Italienisch, Spanisch, alles zugleich, und ich sitze daneben und bin froh, das ein oder andere Schlagwort zu verstehen, zu perplex, um bei Fragen zu antworten und zu nervös, um einen Versuch zu wagen. Ich wollte eigentlich in einem Café schreiben. Stattdessen schreibe ich in einem Zimmer mit passabler Aussicht, in einem Zimmer.
Schuld war Julie. Julie saß gestern im Restaurant neben mir, wie ein Filmstar bewegte sie sich und wie ein Filmstar sah sie auch aus. Beim Sprechen kam sie ganz nah an mein Gesicht und mein Hinterkopf klebte schon fast an der Außenwand des Restaurantgebäudes, weil ich ihrem Gesicht auswich und es dem meinigen doch immer näher kam. Julie hatte dieses leichte Lachen, diese schwerelose Art, diesen Lebenshunger. Julie war in Australien, in Canada, in Frankreich, in Italien, hat überall gelebt und sich überall durchgeschlagen, überall gearbeitet und sich überall eingefunden. Sie redet drauflos, sie bestellt durcheinander, sie reist durch die Gegend.
Aber ich bin nicht Julie. Und Julie ist nicht ich.
Ich wollte im Café schreiben, oder zumindest im Park, im Jardin botanique. Aber der Jardin botanique war geschlossen. Der Parc de l'Orangerie zu weit weg. Ich sagte, ich werde mich mal ein bisschen treiben lassen, ein bisschen hierhin, mal dorthin, ein bisschen umher, und Julie sagte: Ja geh doch ins Café, hier sind die ganzen Cafés, kannst du doch reingehen. Sie sagte das, sie sagte das so einfach, aber weil sie es sagte, wollte ich nicht mehr. Ich dachte, ich könnte im Café sitzen wie Julie es tun würde, stilecht mit dem Kellner plaudern und à la manière française inspiriert dort sitzen und Wort für Wort zu Blatt bringen. Aber ich würde doch nur unsicher dasitzen, bei der Bestellung mich verhaspeln, die Nachfrage, ob ich Zucker möchte, nicht verstehen und vor der Rechnung Herzrasen bekommen, weil ich Bedenken habe, die Summe nicht richtig zu hören. Die Realität würde also weit von dem abweichen, was ich mir in meinen Gedanken vorgestellt hatte, denn ich bin nunmal ich und nicht Julie. Ich war nicht in Australien, ich war nicht in Canada, ich kann ein wenig Schulfranzösisch und so schlecht Italienisch, dass ich mit hanebüchenen Fehlern ein Eis bestellen kann.
Ich würde gerne mehr können. Ich würde gerne Fremdsprachen fließend sprechen, gerne abenteuerlustig sein, und gerne reisen mögen, aber ich tue es einfach nicht. Ich würde gerne sagen: Ich bin gerne unterwegs. Ich ziehe von Land zu Land und Stadt zu Stadt mit meiner Matratze und meinen Büchern, aber ich habe nicht nur eine Matratze und Bücher und ich ziehe auch nicht gerne von Land zu Land und Stadt zu Stadt. Stattdessen sitze ich jetzt hier im Zimmer mit meiner Minderwertigkeitsmelancholie und schreibe, immerhin das. Heute abend soll noch Trubel hier sein, Trinken, Besuch, Lärm bis spät in die Nacht, ich fühle mich langsam zu alt dafür. Ich bin müde. Ich bin nicht lebenshungrig, nicht schwerelos, nicht leicht. Ich bin eben nicht Julie.

Kommentieren