Samstag, 8. Oktober 2016
Strasbourg I. Ganz ohne Vorurteil.
Der 2. Busfahrer: Wir starten unsere Fahrt nach Straßburg. Es wird sehr windig werden auf der Autobahn, sehr, sehr viel Wind. Von vorne links nach hinten rechts, von vorne rechts nach hinten links, von allen Seiten, es ist ein politischer Wind, wie die politische Lage...
Alte Frau: Warum ist der Bus denn eigentlich wieder zu spät, immer zu spät?! Acht Minuten! Acht Minuten, da kann man ja nicht planen, nichts machen, so wird das nichts, das ist doch nicht wirtschaftlich, wer fährt denn da noch mit Ihnen mit, wenn Sie dauernd Verspätung haben, acht Minuten, und dann sagen Sie nicht einmal Bescheid?!
Der 1. Busfahrer: Wissen Sie, das kann man nicht so genau sagen, wie man ankommt. Die Straßen waren voll, es gab einen Unfall und dann...
Alte Frau: Ja, aber acht Minuten?! ...
Der 1. Busfahrer: Ja, die Verkehrslage, die ist leider so. Aber wie geht es Ihnen denn, letztes Mal war doch Ihre Tochter mit im Bus?
Alte Frau: Jaja, diesmal fahre ich alleine zu meinem Sohn nach Freiburg, ich bleibe da eine Woche! Aber meine Tochter, die hat viel zu viel zu tun! Wir haben damals ja alles zugleich hinbekommen, Kinder und Beruf und Eltern, aber die jungen Leute... Stattdessen beschweren sie sich, dass ich mein Handy nicht mitnehme und sie eine Stunde auf mich warten mussten, aber warum sollte ich denn aber mein Handy mitnehmen, auf der Fahrt, ich brauche doch mein Handy auf der Fahrt nicht, immerzu diese Kommunikation!
Der 1. Busfahrer: Ja, manchmal ist das aber nicht so unpraktisch, zumindest zum Bescheid sagen...
Alte Frau: Ach, Bescheid sagen, wir haben das doch früher auch anders geschafft! Wissen Sie, dass man jetzt überlegt, auf dem Boden vor Ampelübergängen Leuchtmarkierungen zu installieren, weil die jungen Leute alle nur mit dem Blick nach unten hängen?!
Der 1. Busfahren: [lacht]
Alte Frau: Ja, Sie lachen! Aber das ist nicht lustig! Ich als Mutter wüsste ja, wie man das verhindern könnte, das ist alles Erziehung, Erziehung ist das! Die jungen Leute haben völlig verlernt zu kommunizieren! Die können sich nicht mehr ins Gesicht sehen! Früher, früher hat man sich getroffen und in die Augen gesehen und dann wusste man was los war, heute schauen die sich nicht mehr in die Augen!
Der 1. Busfahrer: Ja, meine Frau und meine Tochter....
Alte Frau: Empathie! Empathie! Das fehlt den Leuten, sie können nicht mehr zuhören! Und in die Augen sehen!
Der 1. Busfahrer: Ja, wenn meine Frau und meine Tochter...
Alte Frau: Nicht mehr zuhören! Die Augen! Und dann fotografieren sie alles, das Essen, alle müssen ihr Essen fotografieren, und von allem machen sie Bilder, von allem!
Der 2. Busfahrer: Wenn sie nach links und nach rechts sehen, sehen Sie... Groß- … und Kleinblittersdorf. Es zeichnet sich vor allem durch seine Mischung aus sehr alten kaputten und sehr neuen kaputten Häusern aus. Letztere wegen Goldman Sachs.
Der 1. Busfahrer: Wohnen Sie denn in Saarbrücken, wo Sie eingestiegen sind?
Alte Frau: Nein nein, ich wohne in einem kleinen Dorf, ganz weit außerhalb, da braucht man ein Auto. Das ist ganz nett dort, sehr ruhig, wenn man seine Freunde hat, dann geht’s. Die Ureinwohner dort sind unerträglich...
Der 1. Busfahrer: [lacht] Ja, das kenne ich...
Alte Frau: Wissen Sie, was das ist: Ureinwohner?
Der 1. Busfahrer: Jaja..
Alte Frau: Ja, ich weiß ja nicht, ob Sie das kennen, in Deutschland sind ja viele Dinge immer doch anders. Auf dem Dorf gibt es auch diese Dorfvereine, kennen Sie das?
Der 1. Busfahrer: Ja, natürlich...
Alte Frau: Dorfvereine, das sind dann Gesangsvereine, Sportvereine, Schützenvereine,...aber das stirbt ja alles aus, die jungen Leute gehen da ja nicht mehr hin. Gibt es das bei Ihnen auch?
Der 1. Busfahrer: In Dormagen gibt es das auch, ja...
Alte Frau: Aber Sie sind ja nicht aus Dormagen, woher sind Sie, Tschechei oder Polen?
Der 1. Busfahrer: Slowenien.
Alte Frau: Achja, das sind ja auch alle ganz andere Sitten überall, das ist für Sie ja sicherlich komisch, wenn Sie in Deutschland sind.
Der 1. Busfahrer: Naja, ich bin ja schon seit vierunddreißig Jahren in Deutschland...
Alte Frau: Jaja, ganz komisch ist das ja, wenn Sie aus der Tschechei,...
Der 1. Busfahrer: Slowenien...
Alte Frau: Ja, dann eben Slowenien kommen. Es ist ja überall immer anders, immer andere Sitten. Bei den Amerikanern zum Beispiel, die Amerikaner lassen ja zum Beispiel alle immer ihr ganzes Essen auf dem Teller, weil das zeigen soll, dass sie nicht aufgehört haben zu essen, weil nichts mehr da war, sondern weil sie satt sind – die sind doch verrückt! Wahrscheinlich fotografieren die das vorher auch noch, die jungen Leute dort. Also ich meine, ich bin ja ganz ohne Vorurteil, aber...
Der 2. Busfahrer: Wir erreichen Straßburg. Wir beglückwünschen Sie, dass Sie mit den Besten der Besten gefahren sind, nämlich uns, und wünschen Ihnen viel Spaß bei Ihrem Aufenthalt. Alles Gute!

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Strasbourg II. Nicht Julie.
Ich wollte im Café schreiben. In einem richtig schönen französischen Café, stilecht mit dem Kellner plaudern und à la manière française inspiriert dort sitzen und Wort für Wort zu Blatt bringen. Ich wollte im Café schreiben, oder zumindest im Park, im Parc de l'Orangerie, oder dem Jardin botanique, in einem Café oder in einem Park oder in einem Café in einem Park. Doch weit gefehlt. Mich schlug stattdessen meine Minderwertigkeitsmelancholie nieder, die mich immer im fremdsprachigen Gebiet mit multilingualen Freunden ergreift. Man plaudert in fließendem Französisch, Italienisch, Spanisch, alles zugleich, und ich sitze daneben und bin froh, das ein oder andere Schlagwort zu verstehen, zu perplex, um bei Fragen zu antworten und zu nervös, um einen Versuch zu wagen. Ich wollte eigentlich in einem Café schreiben. Stattdessen schreibe ich in einem Zimmer mit passabler Aussicht, in einem Zimmer.
Schuld war Julie. Julie saß gestern im Restaurant neben mir, wie ein Filmstar bewegte sie sich und wie ein Filmstar sah sie auch aus. Beim Sprechen kam sie ganz nah an mein Gesicht und mein Hinterkopf klebte schon fast an der Außenwand des Restaurantgebäudes, weil ich ihrem Gesicht auswich und es dem meinigen doch immer näher kam. Julie hatte dieses leichte Lachen, diese schwerelose Art, diesen Lebenshunger. Julie war in Australien, in Canada, in Frankreich, in Italien, hat überall gelebt und sich überall durchgeschlagen, überall gearbeitet und sich überall eingefunden. Sie redet drauflos, sie bestellt durcheinander, sie reist durch die Gegend.
Aber ich bin nicht Julie. Und Julie ist nicht ich.
Ich wollte im Café schreiben, oder zumindest im Park, im Jardin botanique. Aber der Jardin botanique war geschlossen. Der Parc de l'Orangerie zu weit weg. Ich sagte, ich werde mich mal ein bisschen treiben lassen, ein bisschen hierhin, mal dorthin, ein bisschen umher, und Julie sagte: Ja geh doch ins Café, hier sind die ganzen Cafés, kannst du doch reingehen. Sie sagte das, sie sagte das so einfach, aber weil sie es sagte, wollte ich nicht mehr. Ich dachte, ich könnte im Café sitzen wie Julie es tun würde, stilecht mit dem Kellner plaudern und à la manière française inspiriert dort sitzen und Wort für Wort zu Blatt bringen. Aber ich würde doch nur unsicher dasitzen, bei der Bestellung mich verhaspeln, die Nachfrage, ob ich Zucker möchte, nicht verstehen und vor der Rechnung Herzrasen bekommen, weil ich Bedenken habe, die Summe nicht richtig zu hören. Die Realität würde also weit von dem abweichen, was ich mir in meinen Gedanken vorgestellt hatte, denn ich bin nunmal ich und nicht Julie. Ich war nicht in Australien, ich war nicht in Canada, ich kann ein wenig Schulfranzösisch und so schlecht Italienisch, dass ich mit hanebüchenen Fehlern ein Eis bestellen kann.
Ich würde gerne mehr können. Ich würde gerne Fremdsprachen fließend sprechen, gerne abenteuerlustig sein, und gerne reisen mögen, aber ich tue es einfach nicht. Ich würde gerne sagen: Ich bin gerne unterwegs. Ich ziehe von Land zu Land und Stadt zu Stadt mit meiner Matratze und meinen Büchern, aber ich habe nicht nur eine Matratze und Bücher und ich ziehe auch nicht gerne von Land zu Land und Stadt zu Stadt. Stattdessen sitze ich jetzt hier im Zimmer mit meiner Minderwertigkeitsmelancholie und schreibe, immerhin das. Heute abend soll noch Trubel hier sein, Trinken, Besuch, Lärm bis spät in die Nacht, ich fühle mich langsam zu alt dafür. Ich bin müde. Ich bin nicht lebenshungrig, nicht schwerelos, nicht leicht. Ich bin eben nicht Julie.

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Strasbourg III. Unentspannte Botschaften.
Vier Tage, vier läppische Tage hatte ich Urlaub, das erste und einzige Mal seit Anfang Juni. Den ganzen Urlaub in der ersten Jahreshälfte zu nehmen, war als genialer Schachzug geplant, entpuppte sich dann aber als selbstverschuldeter Horror, nachdem sich der Job im Herbst dann leider doch nicht hinwerfen ließ wie zuvor gedacht. Stattdessen durcharbeiten ohne Unterlass und auf die einzigen Tage schielen, die in meinem Terminkalender kurz, aber umso deutlicher markiert waren: Urlaub! Mangels Geld und um einem längst aufgeschobenem Besuchsversprechen nachzukommen, auf in Richtung Straßburg.
Und dann das. Jeden Tag, jeden einzelnen Tag, höre ich die Frage, die ich schon seit dem elterlichen Tisch, wenn ich am Morgen über der Müslischale hängend versuchte in den Tag zu gelangen, abgrundtief verabscheuen gelernt habe: Und, was machst du heute? Hier höre ich es noch in der Variante: Und, was hast du jetzt heute gemacht?
Und, was machst du heute? Ja, was mache ich denn heute. Vielleicht esse ich erstmal zu Ende. Vielleicht mache ich mir dann bewusst, dass ich Urlaub habe und eigentlich gar nichts machen muss. Vielleicht lasse ich mich auch mal treiben. Vielleicht tue ich aber auch nichts und starre Löcher in die Luft. Das kann ich nämlich auch in Straßburg machen.
Und, was hast du jetzt heute gemacht? Gestern bin ich mir die Füße wund gelaufen, sodass mein rechter Fuß sich heute nicht mal mehr richtig bewegen lässt. Ich bin vormittags zum Jardin botanique gelaufen, um festzustellen, dass er geschlossen hat, dann bin ich durch die Stadt gelaufen, um sagen zu können: ich bin durch die Stadt gelaufen. In der Mittagspause fragte mich eine: Wie, das wars? Und ich dachte: Was soll ich denn noch in zwei Stunden alles machen? Also bin ich am Nachmittag nochmal zum Jardin botanique, der mittlerweile offen hatte, dann bin ich bis zum Parc de l'Orangerie, ich bin bestimmt an die zwanzig Kilometer an dem Tag gelaufen und hatte abends das Gefühl, ich müsse mich rechtfertigen, rechtfertigen dafür, wie wenig ich gemacht habe. Nachdem ich zu Protokoll gegeben hatte, wo ich war, fragte mich ebendievorherige: Was, du warst nur in den beiden Parks, und dann? Und was machst du morgen?
Woher soll ich denn wissen, was ich morgen mache, vielleicht mache ich Leistungsverweigerung. Warum muss ich denn in meinem Urlaub unbedingt etwas machen, vielleicht will ich ja auch nur Urlaub und nicht mir die Füße wund laufen, und nicht nur müder sein als vorher. Ich schlafe schlecht, ich wache alle paar Minuten auf und merke, wie lang doch eine kurze Nacht sein kann, wenn man nicht schläft. Ich bin gestresst, ich bin immer gestresst, aber fühle mich hier noch viel gestresster als sonst. Sonst kann ich zumindest sagen: Ich hab ja gearbeitet, kein Wunder, dass ich angespannt bin. Aber hier ist doch eigentlich Urlaub, oder zumindest dachte ich das. Vielleicht ist aber der Urlaub auch nur eine Fortführung des Leistungsanspruchs im Alltag. Rein in den Urlaub, rein in den Stress in grün. Er sieht vielleicht nicht aus wie der Alltagsstress, was aber nicht heißt, dass er weniger stressig wäre. Er tarnt sich als Unternehmungslust. Statt dem Arbeitgeber kontrolliert die umgebende Gesellschaft, ob man auch bereit ist, die Leistung aufrechtzuerhalten, brav alle Sehenswürdigkeiten abzulaufen und in allen wichtigen Cafés zu essen. Es ist Stress, das ist es. Urlaubsstress. Zum Glück sind es nur vier Tage!

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Donnerstag, 6. August 2015
Konstanten.
Delikatessmomente. steht auf dem Pappkarton, in dem die Katze sitzt und mich durch die Schlitze ebenjenes ansieht. Delikatessmomente also, die Katze scheint das aber nicht zu interessieren, stattdessen steckt sie ihre Pfote durch die Schlitze des Kartons und rappelt ungestüm herum, woraufhin die zweite Katze, die bis gerade noch unbeteiligt zusah, hinein in die Delikatessmomente auf die erste Katze springt, die daraufhin den Angreifer in den Schwitzkasten nimmt. Es beginnt eine wilde Verfolgungsjagd durch die Wohnung, an deren Ende beide Katzen friedlich nebeneinander einschlafen.
Ich sitze immer noch da, und auf dem Pappkarton steht immer noch Delikatessmomente. In ihm liegt einsam eine Spielmaus und sieht mich durch die Schlitze ebenjenes an.

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Montag, 27. Juli 2015
Widersprüchlichkeiten.
Die Blonde und die Rothaarige sitzen in der Bahn. Über Ausbildung reden sie, übers Arbeitsamt,über Freunde, die statt eines Ausbildungsplatzes wieder nur einen Job bei der Zeitarbeit haben. Die Blonde quetscht die Bananenschale mit manikürten Fingern in den überfüllten Abfalleimer.

Im Seminar redet der, dessen Frisur nur mit einer Jahrespackung All-Wetter-Taft halten kann, über theoretische Schriften, man diskutiert bis aufs Blut darüber, ob Musik nur mit Text politisch sein kann und ob ein Platzhaltertext auch instrumental repräsentiert werden kann.

Gestern lief ich, um die 62ct Porto zu sparen, drei Kilometer durch den Wald, warf einen Brief beim Sportverein ein, und lief die drei Kilometer wieder zurück. Je ländlicher es wurde, desto mehr sahen die Leute einen an, erwarteten einen Gruß und starrten umso empörter, desto entschlossener ich wegsah. Ich passierte in meinen Ballerinas Menschen in Trekkingklamotten, die halb so schnell und viel liefen wie ich, aber wenigstens den Anschein des Wanderers wahren wollten.

Es gibt Tage, an denen frage ich mich, wieviel Komisches und Unzusammenhängendes eigentlich in so ein Leben hineinpassen kann. Oder ob es irgendwann platzt, wenn es zu absurd wird.

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