Neuland.
So ein Mist, sagt sie laut vor sich hin, während der Kaffee durch die Kaffeemaschine brodelt und rattert, so ein Mist. Gerade hat sie den jungen Blonden aus ihrer Wohnung geworfen und fragt sich, wie er überhaupt dort hineinkam, sie fragt sich, warum sie sich eigentlich hat breitschlagen lassen gestern. Auf dem Heimweg noch hatte sie doch gesagt, nein, ich gehe alleine., er sagte, ach komm, sei doch nicht so., und sie sagte nein., aber irgendwann hatte sie keine Lust mehr zu streiten, sie hatte keine Lust mehr herumzudiskutieren, und deswegen ging sie dann doch nicht alleine und musste ihn jetzt auch aus ihrer Wohnung werfen. Warum nimmt man überhaupt jemanden mit nach Hause, fragt sie sich. Vielleicht, weil man sich geschmeichelt fühlt. Vielleicht auch nur, weil er Ruhe geben soll. Vielleicht, weil dann zumindest irgendwas passiert. Vielleicht auch, weil man keine Lust auf Liebe hat, vielleicht noch ehesten das.
Sie nimmt ihren Kaffee und denkt daran, was vorher eigentlich passiert war, der junge Blonde saß zwischen lauter jungen Schönheiten und sie saß am Rand, trank zu viel, lachte zu laut und ein älterer Dicklicher legte die Hand auf ihr Bein und schmiegte sich an sie. Der junge Blonde sah hinüber und erhob sich aus dem Kreis der jungen Schönheiten und ging, ausgerechnet, zu ihr. Vielleicht hatte sie ihn also doch nur mitgenommen, weil sie sich geschmeichelt fühlte, vielleicht war es doch das.

Ihr Handy klingelt. Es ist der Techniker, den sie manchmal trifft. Na, war es schön gestern., sagt er. Frag besser nicht., sagt sie und er lacht sein tiefes kehliges Lachen, das wie das Bellen einer Dogge klingt. Du fehlst mir., sagt er. Natürlich fehle ich dir, denkt sie, ich bin ja auch nicht da, aber sie sagt nichts. Dafür hat er ja seine Frau, eine hübsche Frau, sie kennt die Frau von Photos, die ihr der Techniker gezeigt hat. Aber sie will nicht so sein und sagt: Und, sonst alles gut., und er fragt: Hast du heute Zeit., sie seufzt und bejaht und er legt auf. Sie geht zum Briefkasten und zieht einen Umschlag heraus, vom Techniker, komisch, er hat gar nichts gesagt. Eine CD ist darin und ein Zettel: Dachte das dir das gefallen könnte., sie ignoriert die falsche Rechtschreibung, legt die CD ein und hört das Lied, dass sie beim letzten Tanzabend mit dem Techniker gehört hatte. Sie lässt sich auf den Stuhl fallen, leert ihren Kaffee und fragt sich, ob sie doch zu hart war.

Kaum verlässt sie das Haus, holt sie sich an der nächsten Ecke wieder einen Kaffee, sie kann nicht gut schlafen in der letzten Zeit, oft nickt sie erst gegen zwei Uhr morgens ein und um vier Uhr ist sie schlagartig wieder wach, verdreht die Augen, sieht auf die Uhr, bekommt Schlafpanik, als sie merkt, dass diese Nacht wieder nichts hergeben wird, legt sich seufzend wieder hin und wartet auf den Schlaf, der einfach nicht kommen will.
Zum Mittagessen trifft sie sich mit dem Techniker, er sitzt dort und lacht, sie setzt sich zu ihm und beide essen. Er erzählt aus seiner Arbeit, er erzählt eigentlich bei jedem Treffen dieselben Geschichten. Manchmal denkt sie, sie müsste ihm das sagen, dass er immer nur das Gleiche erzähle und sie die Story mit dem Chef, der bei der Arbeit einschlief, schon in und auswendig könne, aber am Schluss müsste sie dann ja selbst reden, also hört sie lieber mit halben Ohr hin, wirft ein hmm, ja, achso, na dann. ein und isst. Nach dem Essen geht der Techniker ganz selbstverständlich mit zu ihr nach Hause, das ist gar keine Frage für ihn, es ist ja alles so wie immer. Nur eines ist nicht so wie immer, es geht etwas schief und als er neben ihr liegt und sich eine Zigarette anzündet, sagt er: Gehst du zum Arzt, nur zur Sicherheit., er fragt nicht, er sagt es einfach, und sie sagt: jaja. Ich kann dich auch zum Zug fahren, du musst heute doch noch weg, sagt er. und sie sagt: Danke, ist schon ok.
Sie sitzt später im Zug und wählt schon die Nummer des Arztes, als ihr ein seltsamer Gedanke kommt. Gerade als sich die Praxis meldet, legt sie wieder auf. Vielleicht geht sie nicht zum Arzt, vielleicht, sie will darüber nicht nachdenken, über das vielleicht und über das eigentlich, das alles ist zu seltsam und zu absurd, als dass sie das überhaupt verstehen würde.

Abends trifft sie eine alte Freundin, sie sitzen in einer Bar, trinken Cocktails. Stunden später sind sie immer noch wach, versuchen einen Club zu finden, der noch geöffnet ist und sie stolpert dabei über einen Fahrradständer, fällt einem dunklen Mann in die Arme, der sie daraufhin überreden will, mit ihm mitzugehen, ihr ist schwindlig und gleichzeitig ist alles ganz klar, sie sagt ja, aber ihre Freundin zieht sie von ihm weg und in den nächsten Club. Es ist laut, es dröhnt, es ist eng, alles ist eng und laut und dröhnt und irgendwann ist da ein Typ, der sie in den Arm nimmt, der ihren Namen wissen will, der sie küsst, ganz sanft und ihr ist alles egal, der Techniker, der junge Blonde, dessen Name sie schon lange vergessen hat, aber ihre Freundin, ihre Freundin zieht sie aus dem Club, der Typ ruft noch hinterher, halt, ich habe deine Nummer doch gar nicht., aber es ist besser so, denkt sie, bestimmt ist alles besser so.
Als sie am nächsten Tag auf dem Weg nach Hause sitzt, hat sie den Arzt immer noch nicht angerufen. Aber auch der Techniker meldet sich nicht. Sie schreibt ihm einmal, zweimal, und fragt sich, ob seine Frau vielleicht inzwischen doch etwas mitbekommen hat. Kein Wunder, soviel wie er an seinem Handy und Pc hängt, kein Wunder, dass seine Frau misstrauisch wird, aber so ist das eben. Sie denkt daran, was für große Worte ihr schreibt und dann, wenn er da ist, doch immer nur seine immergleichen Geschichten erzählt. Wie er immer wieder absagt und meint, ich glaube, das ist alles gegen uns. Vielleicht sollte sie den Arzt jetzt aber auch mal wirklich anrufen. Ja, bestimmt, denkt sie, bestimmt. Aber sie tut es noch immer nicht.

Wochen später hat sich der Techniker immer noch nicht gemeldet. Sie ist im Kopf zuerst alle unverschuldeten Varianten durchgegangen, Mord, Unfall, Entführung, aber neulich fuhr er dann doch im Auto an ihr vorbei. Hat seine Frau also etwas mitbekommen, oft genug hatte sie gedacht, was denn wäre, wenn sie die Frau treffen würde, was sie ihr sagen würde. Ob sie ihr sagen würde, dass sie den Techniker nicht trifft, obwohl er eine Frau hat, sondern weil. Und dass sie es nur tut, weil sie weiß, dass diese Frau so schön und nett ist, dass er sie sowieso nicht verlassen würde.
Die Tage und Wochen vergehen und mit jedem Tag, den der Techniker sich nicht meldet, merkt sie, dass sie vielleicht den Arzt doch hätte anrufen sollen. Aber es ist zu spät, es ist schnell zu spät bei sowas, ein, zwei Tage, schon ist alles vorbei, schon lässt sich nichts mehr ändern. Nichts lässt sich mehr ändern, sagt das Kind in ihr, jetzt bin ich da und du musst mit mir klarkommen. Abwarten, sagt sie zum Kind, abwarten.
Sie überlegt, wie das werden soll, ob sie das aushält, wenn das Kind aussieht wie der Techniker oder noch schlimmer, wie sie selbst, und sie fragt sich das jeden Tag, wenn sie einkaufen geht und sie das Portemonnaie aus der Tasche nimmt und dabei auf ihren Bauch sieht und das Kind mit den Augen des Technikers heraussieht, und sie zurückstarrt und denkt, nein, das kann es doch nun auch nicht sein.

An irgendeinem Tag steht sie frühmorgens auf. Seit sie das Kind mit sich herumschleppt, kann sie wieder schlafen, sie holt sich trotzdem einen Kaffee, setzt sich in den Park und hält sich an dem dampfenden Becher fest. Eine Ente watschelt gemütlich von links nach rechts. Sie denkt lange nach. Irgendwann sieht sie ihren Bauch an und das Kind starrt zurück, mit den dunklen Technikeraugen, und sie fasst einen Entschluss.
Am Abend sitzt sie an ihrem Schreibtisch. Der Apotheker hatte sie seltsam angesehen, also hat sie sämtliche Apotheken der Stadt abgeklappert, aus jeder Apotheke hatte sie eine Packung Schlafmittel geholt, sie drückt alle Schlafmitteltabletten aus der Packung und legt sie zu einem Bild auf den Tisch. Wiese, Blumen, Sonne, alles aus kleinen weißen Tabletten. War es das schon mit mir, fragt das Kind, darf ich gar nichts sehen von der Welt., und sie sagt: Ach sei froh über alles, was du nicht sehen musstest. Sie legt die Hand auf ihren Bauch und das erste Mal streichelt sie das Kind und sagt: Es wird ganz schnell gehen und nicht weh tun, und das Kind sieht sie an, diesmal mit ihren eigenen Augen und sagt: in Ordnung. Zuerst die Wiese, dann die Blumen, dann die Sonne, Stück für Stück schluckt sie eine Tablette nach der anderen, schließt die Augen, spürt auch, dass das Kind die Augen fest geschlossen hat und beide zählen rückwärts von zehn, wohl wissend, dass sie die eins nicht mehr erleben werden.

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